Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
hübsches Gesicht war völlig in Gedanken versunken, wie bei einem Gelehrten, der eine Tabelle mit Formeln der höheren Mathematik studiert. Sie schwankte nach rechts und links wie ein Boot im Sturm, und ihr Nachthemd flatterte. Mit hoher, kindlicher Stimme begann sie schrill zu singen.
Tief im Loch, tief im Grase,
Maulwurf singt mit nasser Nase,
singt ein Lied von kaltem Stein,
Schlamm und grauem Knochenbein,
stiller kleiner Maulwurfsang,
eiskalt dunkle Nächte lang,
wo er gräbt in den Tiefen,
wo die weißen Würmer schliefen,
wo die toten Menschen liegen,
Augen sich in Erde schmiegen.
Wo die Käfer Eier legen
und sich ihre Larven regen,
mit den spröden schwarzen Beinchen
kratzen über kleine Steinchen,
kratz und schab und kratz und schab,
und das Dunkel steigt herab,
deckt sie wie ein Mantel zu
mit Vergessen, Schwärze, Ruh.
Dunkel deckt ihre Schande,
deckt die Namen weit im Lande,
Namen von so vielen Toten,
längst verhallt, verstummt, verboten,
fortgeflohen, leere Hirne,
leerer Wind in leerer Stirne.
Drüber wächst auf Stein das Gras,
brache Felder, regennass;
keine Saat, nur tiefe Wunden.
Was sie kannten, ist verschwunden,
und sie klagen in den Tiefen,
ganz als ob sie dort nicht schliefen,
rufen traurig und vergessen
Dingen nach, die sie besessen,
werfen weinend sich umher,
augenlos, doch tränenschwer.
Unter Grubenkraut und Moos
in des Grabes tiefem Schoß
gibt es Diener nicht noch Herrn,
kein Gesicht, nicht Ruhm noch Stern,
Wissen braucht man nicht noch Glück.
Doch sie sehnen sich zurück.
Und es starrn die toten Alten
aufwärts durch die düstren Spalten
nach dem Sonnenlicht, dem trüben,
und verfluchen alte Lieben
und den Frieden, den das Leben
ihnen damals nicht gegeben,
Sorgen nur, aus Not geboren,
Frau und Kind, aus Not verloren,
Leid und Kummer, die sie brannten,
Lehren, die sie nicht erkannten.
Trotzdem wollen sie zurück,
zurück, zurück,
wollen sehnsuchtsvoll zurück.
ZURÜCK!
Schau ins Loch tief hinab
unterm alten Hügelgrab:
Haut und Blut und Gebein,
weich wie Schlamm unterm Stein,
und die Welt stimmt faulig ein …
Skodis Lied schien kein Ende zu haben. Es kreiste abwärts wie ein dunkler Strudel in einem verlassenen, von Wasserpflanzen erstickten Teich. Simon fühlte, wie er mit hinabsank, gezogen von den beharrlichenRhythmen, bis die Flammen und die nackten Sterne und die glimmenden Kinderaugen zu Lichtstreifen miteinander verschmolzen und sein Herz sich in tiefe Dunkelheit drehte. Sein Geist empfand keine Verbindung mehr mit seinem gefesselten Körper und dem, was um ihn herum vorging. Das eintönige Zischen eines sinnlosen Geräusches überdeckte seine Gedanken. Auf dem verschneiten Hof bewegten sich dunkle Gestalten, unwichtig wie Ameisen.
Jetzt packte eine der Gestalten den runden, bleichen Gegenstand, den sie in der Hand gehalten hatte, und schleuderte ihn ins Feuer, eine Faust voll Pulver hinterher. Eine Wolke scharlachroten Rauchs quoll auf, stieg langsam zum Himmel empor und verdunkelte Simons Blick. Als der Rauch sich verzogen hatte, brannte das Feuer so hell wie zuvor, aber über den Hof schien sich eine tiefere Finsternis gelegt zu haben. Das rote Licht, das die Gebäude blutig gefärbt hatte, war jetzt gedämpft und alt wie der Sonnenuntergang einer sterbenden Welt. Der Wind hatte sich gelegt, aber vom Boden des Klostergeländes stieg eine tiefe Kälte auf. Obwohl ihm sein Körper nicht mehr ganz gehörte, konnte Simon doch den durchbohrenden Frost fühlen, der ihm jetzt bis ins innerste Mark drang.
»Kommt zu mir, Herrin Silbermaske!«, rief die größte der Gestalten. »Sprecht mit mir, Fürst Rotauge! Ich möchte mit Euch handeln! Ich habe etwas Schönes für Euch!«
Der Wind schwieg noch immer, aber trotzdem begann das Feuer zu schwanken, sich auszudehnen und sich zu schütteln wie ein großes Tier, das in einem Sack um sich schlägt. Die Kälte verdichtete sich. Die Sterne verblassten. Ein Schattenmund und zwei leere schwarze Augenflecke formten sich in den Flammen.
»Ich habe ein Geschenk für Euch!«, rief die große Gestalt fröhlich. Simon erinnerte sich, dass sie Skodi hieß. Mehrere Kinder weinten, und trotz der sonderbaren Stille klangen ihre Stimmen wie erstickt.
Das Gesicht im Feuer verzerrte sich. Ein tiefes, grollendes Aufbrüllen quoll aus dem gähnenden schwarzen Mund, langsam und tief wie das Knarren der Wurzeln eines Berges. Falls das Brüllen Wörter enthielt, waren sie nicht zu verstehen.
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