Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2

Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2

Titel: Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
verfallende Palast des Grafen auch wirkte, es war schwerer, aus ihm zu entkommen, als aus den tiefsten, feuchtesten Verliesen des Hochhorstes. Die Eingangstür des Flügels, in dem sie untergebracht war, blieb stets fest verschlossen. Ebenso versperrt waren die vom Korridor abgehenden Räume. Ein breitknochiger und ernst blickender Wärter ließ die Frau, die Miriamel ankleidete, und die übrige Dienerschaft hinein und wieder hinaus. Von allen möglichen Fluchtwegen stand nur die Tür am anderen Ende des langen Korridors offen. Hinter dieser Tür lag Streáwes von Mauern umschlossener Garten, und dort verbrachte Miriamel die meiste Zeit.
    Der Garten war kleiner, als sie ihn in Erinnerung hatte, aber das konnte sie nicht überraschen, denn sie war noch sehr jung gewesen, als sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Auch er schien gealtert, so als ob die bunten Blumen und das grüne Laub ein wenig müde geworden wären.
    Beete mit roten und gelben Rosen säumten den Garten, aber siewurden allmählich von üppig wuchernden Ranken verdrängt, deren wundervolle, glockenförmige Blüten blutrot leuchteten und deren betäubendes Parfüm sich mit einer unendlichen Vielzahl anderer süßer und trauriger Düfte vermengte. Akeleien klammerten sich an Mauern und Türrahmen, und ihre Sporenblüten strahlten in der Dämmerung wie sanft schimmernde Sterne. Hier und da blitzten zwischen den Ästen der Bäume und den blühenden Büschen noch wildere Farbstreifen hervor – die Schweife schrill singender, onyxäugiger Vögel von den Südlichen Inseln.
    Nach oben hin stand der von hohen Mauern umringte Garten dem Himmel offen. An ihrem ersten Morgen im Freien versuchte Miriamel über die Mauer zu klettern, merkte aber schnell, dass die Steine zu glatt waren, um Halt zu bieten, die Ranken zu dünn, um sich darauf zu stützen. Als wollten sie sie daran erinnern, wie nah die Freiheit war, schwirrten immer wieder winzige Vögel von den Bergen über den Himmel. Manchmal hüpften sie von Ast zu Ast, bis sie irgendetwas erschreckte und sie wieder steil hinauf in die Luft stoben. Ab und zu flatterte auch eine Möwe herein, die es vom fernen Meer hierher verschlagen hatte; sie stolzierte vor den farbenprächtigen Bewohnern des Gartens umher und plusterte sich auf, um dabei wie ein Gassenjunge ständig auf die Abfälle von Miriamels Mahlzeiten zu schielen. Doch obwohl der freie Himmel, an dem die Wolken wogten, ihnen so nahe war, blieben die Inselvögel mit ihrem leuchtenden Gefieder, wo sie waren, und krächzten nur erbost aus den grünen Schatten hervor.
    An manchen Abenden kam Streáwe zu ihr in den Garten. Der mürrische Lenti trug ihn herein und setzte ihn in einen hochlehnigen Sessel. Eine buntgemusterte Schoßdecke bedeckte die nutzlosen, verdorrten Beine des Grafen. Miriamel, unglücklich in der Gefangenschaft, zeigte absichtlich kein Interesse, wenn er versuchte, sie mit lustigen Geschichten, Seemannsklatsch und Hafengerüchten zu erheitern. Trotzdem stellte sie fest, dass sie den alten Mann nicht wirklich hassen konnte.
    Als ihr klar wurde, dass Fluchtversuche keinen Sinn hatten und die verstreichenden Tage die Schneide ihrer Verbitterung stumpf werden ließen, fand sie unerwarteten Trost darin, im Garten zusitzen, wenn der Spätnachmittag in den Abend überging. Am Ende des Tages, wenn sich der blaue Himmel über ihr langsam zinngrau und dann schwarz färbte und die Kerzen in den Leuchtern herunterbrannten, flickte Miriamel Kleidung, die sie auf ihrer Reise nach Süden zerrissen hatte. Während die Nachtvögel zögerlich ihre ersten Töne sangen, trank sie Calamint-Tee und tat so, als höre sie den Geschichten des alten Grafen nicht zu. War endlich die Sonne untergegangen, hüllte sie sich in ihren Reitermantel. Der Yuvenmonat war ungewöhnlich kalt gewesen, und selbst in dem geschützten Garten waren die Nächte kühl.
    Als Miriamel beinahe eine Woche in Streáwes Burg gefangen gesessen hatte, kam er traurig zu ihr und berichtete vom Tod ihres Onkels Herzog Leobardis im Kampf vor den Mauern von Naglimund. Der älteste Sohn des Herzogs, Benigaris – ein Vetter, für den Miriamel nie viel übriggehabt hatte – war nach Hause zurückgekehrt, um vom Thron der Sancellanischen Mahistrevis aus über Nabban zu herrschen. Vermutlich, dachte Miriamel, mit Hilfe seiner Mutter Nessalanta, einer weiteren Verwandten, die Miriamel nicht besonders schätzte. Die Nachricht bekümmerte sie: Leobardis war ein freundlicher Mann gewesen. Außerdem

Weitere Kostenlose Bücher