Der Adler ist entkommen
»Das war's. Nehmt die Antennen ab und wickelt sie auf.«
Mary humpelte durch die Küche und sammelte die Antennenschnüre ein. Ryan sah seinen Freund gespannt an. »Ist alles in Ordnung, Liam?«
»Nichts ist in Ordnung, mein Freund. Wir sollten am einundzwanzigsten wieder in Frankreich sein. Nun teilen Sie mir mit, daß das große Ereignis bereits am fünfzehnten steigen soll. Da heute schon der zwölfte ist, bleibt uns nicht mehr viel Zeit.«
»Ist das denn überhaupt zu machen, Liam?«
Devlin zuckte die Achseln. »Zuerst fahren wir morgen runter nach Romney Marsh und begutachten die Verhältnisse auf Shaw Place.« Er wandte sich an Mary. »Wie würde Ihnen ein Ausflug
aufs Land gefallen?«
»Das fände ich nicht schlecht.«
»Gut, dann rufe ich die Shaws an und kündige meinen Besuch an.«
Zurück in seinem Büro setzte Schellenberg sich an seinen Schreibtisch und studierte die Nachricht, die vor ihm lag. Asa Vaughan und Ilse Huber beobachteten ihn gespannt.
»Also, was wissen wir jetzt?« überlegte Schellenberg laut. »Er ist angekommen und hält sich im Haus seines IRA-Freundes auf. Dann hat er sich mit den Shaws in Verbindung gesetzt und mit Steiner gesprochen.«
»Alles läuft offenbar glatt«, sagte Asa.
»Scheint so, aber er kann es auf gar keinen Fall bis zum fünfzehnten schaffen. Das ist völlig unmöglich, sogar für einen Liam Devlin.«
»Allmählich frage ich mich, ob es für diesen Burschen das Wort ›unmöglich‹ überhaupt gibt«, meinte Asa.
»Halten Sie sich morgen bereit«, sagte Schellenberg. »Das war seine letzte Anweisung. Nun ja, wir werden sehen.« Er stand auf. »Ich bezweifle zwar, ob es in der Kantine Champagner gibt, aber egal, was sie haben, die Runde geht auf mich.«
11
Südlich der Themse nahmen sie die Straße nach Maidstone. Ryan saß am Steuer, und Devlin hatte sich neben ihn gezwängt. Er war nicht in Uniform, sondern trug seinen Trenchcoat über dem Priestergewand mit dem Priesterkragen. Den schwarzen Filzhut hatte er in einem verwegenen Winkel schräg über ein Ohr gezogen. Ryan hatte die Wahrheit gesagt. Der Motor des Ford war in einwandfreiem Zustand trotz des klapprigen Anblicks, den der Wagen bot.
»Du hattest recht, Michael« stellte Devlin fest. »Deine alte Karre ist das reinste Geschoß.«
»Na klar. Ich könnte damit glatt in Brooklands antreten, wenn dort noch immer Rennen gefahren würden«, meinte Ryan grinsend.
Mary saß im Heck des Kombiwagens und las wie üblich in einem Buch. »Geht es Ihnen gut da hinten?« fragte Devlin sie.
»Ich kann nicht klagen.«
»Wir machen gleich eine Pause und trinken eine Tasse Tee.«
In Maidstone kurvte Ryan durch das Stadtzentrum, bis er ein Fahrradgeschäft fand. Devlin ging hinein und kaufte ein halbes Dutzend Fahrradlampen mit frischen Batterien.
»Jetzt sind sie ausverkauft«, berichtete er, als er wieder zum Wagen kam. »Ich hab' erzählt, ich brauchte die Dinger für meine Pfadfindergruppe. Wirklich, dieser Kragen, so unbequem er auch ist, erweist sich überall als nützlich.«
»Für was brauchen Sie die Dinger eigentlich?« fragte Mary.
»Ein Flugzeug, das bei Nacht landen will, ist wie ein Vogel, der sich verirrt hat. Es braucht irgendeinen Willkommensgruß. Ein bißchen Licht.«
Als sie Ashford hinter sich gelassen hatten, hielten sie am Straßenrand. Mary öffnete die Thermosflasche, und sie machten eine Teepause. Ein Pfad führte in ein kleines Wäldchen. Es hatte aufgehört zu regnen, aber es war noch immer sehr naß. Der Himmel über Romney Marsh und dem Meer dahinter war düster und hing voller Wolken. Mary und Devlin unternahmen einen kleinen Spaziergang, schlenderten den Pfad entlang, blieben unter einem Baum stehen und betrachteten die Landschaft.
Er wies mit einem Kopfnicken auf ihr Buch. »Was ist es diesmal?«
»Lyrik«, sagte sie. »Robert Browning. Mögen Sie Gedichte?«
»Ich habe sogar selbst mal welche veröffentlicht. Was man in diesem Gewerbe ein dünnes Bändchen nennt.« Er lachte. »Mir fielen diese Verse praktisch im Vorbeigehen ein, und dann erkannte ich eines Tages, wie furchtbar sie waren.«
»Das glaube ich Ihnen nicht. Sie machen sich über mich lustig.«
Er klemmte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. »Na schön. Sie wollen es nicht anders.« Er überlegte einen Moment lang und begann dann: »Geheimnisvolles Kind, wer bist du? Du eilst dahin in
Weitere Kostenlose Bücher