Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte
»Ich wette, er ist abgestürzt und hat sich das Genick gebrochen.«
»Beinahe«, gab Murat zu. »Es gab ein Sicherheitsnetz.«
»Du kannst dich nicht daran erinnern, wie es im Himmel aussieht, aber an deine Schutzbefohlenen?«
»Nicht an alle, nur an die schwierigen Fälle.«
Es klingelte an der Wohnungstür. Murat erstarrte. »Erwartest du jemanden?«
»Vielleicht Julian, der sich aufwärmen will«, sagte sie. Sie stand auf, verknotete den Gürtel ihres Morgenrocks und ging in den Flur. Als sie durch den Spion Vitus Wenzel im Treppenhaus erblickte, wich sie unwillkürlich zurück. »Monsignore!«, entfuhr es ihr. Sie gab Murat ein Zeichen und flüsterte: »Mach dich unsichtbar!«
»Ich weià nicht, wer den Begriff unchristliche Zeit geprägt hat«, rief der Monsignore durch die geschlossene Tür, »aber man kann wohl sagen, dies ist eine, meine Tochter. Und ich würde dich nicht am ersten Weihnachts tag zu so früher Stunde behelligen, wenn es nicht dringende Umstände erforderten. Mach auf, es ist kalt!«
Emma öffnete die Tür. Der Monsignore, selbst so früh am Morgen elegant wie immer, trat ein und warf einen Blick an Emma vorbei auf den gedeckten Frühstückstisch in der Küche am anderen Ende des Flurs. »Oh, das sieht aber gut aus. Ich könnte eine kleine Stärkung vertragen. AuÃer dem Leib des Herrn habe ich heute noch nichts zu mir genommen.«
Ohne eine weitere Aufforderung abzuwarten, drängte er sich, begleitet von einem Schwall Dezemberkälte, an Emma vorbei, und machte sich auf den Weg in die Küche, ohne nach rechts oder links zu schauen.
Emma folgte ihm verwundert, wobei sie im Vorbeige hen die Tür zum Wohnzimmer zuzog. »Was sind das denn für dringende Umstände?«
»Ich mache mir Sorgen um dich, Emma.« Seine Stimme klang kurzatmig. »Um dich und deine unsterbliche Seele. Mir ist da ein äuÃerst beunruhigendes Gerücht zu Ohren gekommen. Wenn das stimmt, könnte man den Eindruck gewinnen, du befändest sich auf einem Kreuzzug, der es der Diozöse unmöglich machen würde, dich weiter zu beschäftigen. Und das wäre noch die geringste Widrigkeit, die daraus erwachsen könnte.«
»Kreuzzug?« Daher wehte also der Wind. »Auf diesen Ausdruck wäre ich gar nicht gekommen. Aber er trifft es ziemlich genau. Allerdings geht es mir nicht nur um mich. Es geht um alle, die vom Pech verfolgt werden. Denen ein Unglück nach dem anderen widerfährt, ohne dass ihnen jemand beisteht, weil da oben alle wegsehen oder vergessen haben, was ihre Aufgabe ist!«
»Also, darüber müssen wir noch mal reden, meine Toch ter«, sagte der Monsignore, bereits halb aus dem Man tel geschlüpft. Unaufgefordert nahm er am Küchentisch Platz, auf dem zwei Wachskerzen brannten. »Gedeckt für zwei?«, stellte er fest. »Hast du mir sonst noch was verheimlicht?«
»Das Wichtigste wissen Sie ja offenbar schon, Mon signore«, antwortete Emma ausweichend.
»Ja, das Nachrichtensystem der Kirche hat schon immer ziemlich gut funktioniert. Setz dich, Emma.«
Sie gehorchte und schenkte Wenzel und sich Kaffee ein, während er ein Brötchen aufschnitt, mit Butter be strich und anschlieÃend mit Honig beträufelte. Dann sagte er: »Zunächst aber möchte ich dich bitten, mein Gedächtnis etwas aufzufrischen, was einen Antiquitätenhändler namens Baron von Salásy betrifft. Ich mei ne, mich zu erinnern, dass du mir mal von ihm erzählt hast.«
Emma nickte. »Er hat meinen Vater vor drei Jahren mit einem gefälschten Cézanne beinahe in den Ruin getrieben.«
»Und warum?«
»Mein Vater hat ihm ein paarmal das eine oder andere Objekt vor der Nase weggeschnappt. Die Kunden kamen lieber zu ihm als zu Salásy, weil KuK Antiquités keinen guten Ruf hat. AuÃerdem hat Papa bei einem Prozess als Gutachter nachgewiesen, dass der Baron billiges Kunsthandwerk mit gekauften Expertisen unters Volk gebracht hat. Salásy scheint sieben Leben zu haben und versucht seitdem, Papa vom Markt zu drängen. Es wird höchste Zeit, dass jemand diesem Betrüger das Handwerk legt.« Sie hörte leise Schritte drauÃen im Flur. »Aber wieso fragen Sie nach ihm?«
»Wegen der Madonna von Ignaz Günther, die dein Vater in Kommission genommen hat.«
»Hat Salásy damit etwa auch zu tun?« Emma
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