Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte
gegen sie drängte. Sie schaltete die immer noch brennende Nachttischlampe aus.
Der warme Druck gegen ihre Seite erregte sie auf eigenartige Weise. Sie beugte sich über ihn, schnupperte an seiner Haut. Wie riecht ein Engel?, dachte sie. Nach Myrrhe? Oder Weihrauch? Es war eher Honig â Honig und etwas Zimt, dazu Sandelholz, vielleicht noch Moos. Ein seltsamer, doch angenehmer Geruch. Im Schlaf wirkte Murat harmlos, unschuldig, doch sie ahnte, dass er schnell auf den Beinen sein konnte, wenn er Gefahr oder Beute witterte. Wie ein Raubtier. Ein muskulöser Wilder. Du meine Güte, dachte sie, krieg dich ein, er ist ein Engel!
Aber nicht im Augenblick. Im Augenblick und für die nächsten Tage war er nur ein junger Mann, der nach Honig, Zimt und Moos roch.
A ls Emma das nächste Mal wach wurde, war es noch dunkel. Sie lag auf dem Bett, war aber nicht zugedeckt. Sie hörte das Tröpfeln von schmelzendem Schnee auf dem Fensterbrett und leise Atemzüge. Murat lag neben ihr auf dem Bauch, und sie konnte nur seine Haare sehen, sonst nichts. Sie wollte darüberstreichen wie über das Fell eines kleinen Tiers, tat es aber nicht. Mein Engel, dachte sie und schlief wieder ein.
Beim zweiten Mal schneite es wieder. Sie hatte die Vorhänge nicht zugezogen und konnte die Flocken am Fenster vorbeitreiben sehen. Es ist Weihnachten, dachte sie. Sie lag allein im Bett, jetzt war sie zugedeckt. Das dämmernde Licht eines Wintermorgens erfüllte den Raum. Sie lächelte, erfüllt von einem Gefühl heiteren Glücks, an das sie keinerlei Erinnerung hatte. In der Luft hing der Duft von frischem Kaffee.
Sie entdeckte Murat im Wohnzimmer bei dem Tisch mit den Orangen. Er stand mit dem Rücken zu ihr, nahm eine Orange aus der Schale und wog sie in der rechten Hand, wie um ein Gefühl für ihr Gewicht zu bekommen. Er lieà sie auf dem Handteller kreisen, einmal, zweimal. Dann drehte er die Hand rasch, die Orange rollte über seinen Handrücken und, als er den Arm ein wenig hob, über den Unterarm zum Ellbogen. Von dort weiter zur Schulter, die er nur schwach drehen musste, damit die Apfelsine über seinen gesenkten Nacken zur anderen Schulter rollte und über den ausgestreckten linken Arm wieder abwärts, bis sie in der linken Hand landete.
»Was machst du da?«, fragte Emma.
Er drehte sich um. »Hallo. Ich wusste nicht, dass du wach bist«, sagte er mit einem Lächeln, das ihr den Atem verschlug. »Frohe Weihnachten. Gut geschlafen?«
»Ja«, antwortete sie ehrlich. »Frohe Weihnachten.« Sie hatte das Gefühl, überhaupt noch nie so gut geschlafen zu haben und so ausgeruht aufgewacht zu sein. Der Schmerz in ihrer Blinddarmnarbe hatte aufgehört; sie konnte mit dem Finger darüberstreichen und spürte die Berührung nur in der Fingerkuppe.
»Warum machst du das?«, fragte sie. »Denkst du, das beeindruckt mich?«
Er trug nur seine Jeans, sonst nichts, keine Strümpfe, keine Schuhe, kein Hemd. Sie hatte das Gefühl, dass er gröÃer geworden war in der vergangenen Nacht, kräftiger. Er nahm eine zweite Apfelsine in die rechte Hand, warf sie hoch, griff sich eine dritte und warf auch diese in die Luft, bevor er die aus der linken Hand zur rechten hinüberspielte und die zuerst hochgeworfene Orange mit der nun freien Linken auffing.
Mit leicht gespreizten Beinen stand er da. Seine Hände schienen sich kaum zu bewegen, nur die Muskeln an Schultern und Rücken zuckten unter der Haut. Er hatte den Kopf ein wenig in den Nacken gelegt, um die Orangen durch die Luft fliegen zu sehen. Aus drei waren inzwischen vier geworden, aber bei der fünften trat ihm der Schweià auf die Stirn, und die Früchte landeten in seinen Händen wie harte, klatschende Schläge. In diesem Anblick blieb die Welt stehen. Es war wie ein Rausch, ein wilder Kitzel, der von ihm auf Emma übersprang. Auf einmal dachte sie: Das würde ich jetzt gern malen.
Ans Malen, an eigene Bilder hatte sie seit dem Stu dium nicht mehr gedacht. Nicht mal, während sie mit Mark zusammen gewesen war. Als Murat die Apfelsinen eine nach der anderen auffing und zurück in die Schale rollen lieÃ, richtete sie sich auf und sagte: »Das ist nichts Besonderes. Viele Menschen können das.«
»Ich weië, sagte er. »Ich war mal der Schutzengel eines Akrobaten. Er balancierte auf einem Seil und jonglierte dabei mit Orangen.«
Emma sagte:
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