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Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Titel: Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noel Hardy
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Fenster des Schlafsaals gestanden und auf die Straße geschaut, wo ihr Vater am letzten Schultag mit dem Wagen kam, um sie in die Ferien abzuholen. Jeden Tag hatte sie dort gestanden.
    Die Votivkerzen in den Nischen waren herunterge brannt, aber der Mond warf einen schwachen Lichtschim mer durch die farbigen Kuppelfenster. Wenn ich nur wüsste, was ich glauben soll , dachte Emma. Was tat Murat da? Erstattete er dem Himmel Bericht über seine Fortschritte? Oder hatte er nur Heimweh, so wie sie damals im Internat? Dann musste er tatsächlich ein Engel sein. Oder jemand, der sich selbst dafür hielt. Was allerdings bedeuten würde, dass er kein wirklicher Betrüger war.
    Einfacher wurde es durch diese Gedanken nicht. Emma trat aus dem Dunkel und verursachte dabei absichtlich ein Geräusch, damit Murat wusste, dass er nicht mehr allein war. Er wandte den Kopf, bedächtig, fast träge. Dann kam er langsam auf sie zugeschlendert, die Hände in den Gesäßtaschen.
    Â»Ich bilde dich mir doch nicht nur ein, oder?«, fragte sie. »Tue ich das? Bilde ich dich mir nur ein?«
    Er antwortete nicht.
    Â»Es tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe«, sagte sie.
    Er zuckte mit den Schultern. »Man hat mich darauf vorbereitet, dass das passieren könnte.«
    Â»Es ist nur so«, versuchte sie zu erklären, »dass so viel davon abhängt, wer du bist und was du tust. Für mich, aber auch für meinen Vater. Es wäre schrecklich, wenn er enttäuscht würde.«
    Â»Ich weiß«, sagte er. Er rollte wieder kurz mit den Schultern wie vorhin im Geschäft, als versuchte er, die Flügel auszubreiten, die er nicht mehr hatte. »Trotzdem sollten wir jetzt, wo ich einen Anwalt habe, vielleicht nicht mehr persönlich miteinander verkehren.«
    Sie spürte einen unerwarteten Stich, den sie sich nicht erklären konnte. »Das scheint mein Vater ganz ähnlich zu sehen«, antwortete sie schroffer als beabsichtigt. »Du schläfst heute bei ihm!«

    A m nächsten Tag, dem 28. Dezember, rief Monsignore Wenzel schon in aller Herrgottsfrühe Baron von Salásy in seinem Geschäft an. »Monsignore, was für eine angenehme Überraschung«, begrüßte der Antiquitätenhändler ihn mit öliger Stimme, die knietief im ungarischen Akzent watete. »Was kann ich für Sie tun?«
    Â»Nun, ehrlich gesagt, weiß ich nicht so recht, wie ich anfangen soll«, begann der Monsignore. »Nach meinem Besuch bei Ihnen habe ich gestern dem Auktionshaus von Theodor Brahms einen Besuch abgestattet, um die Ma donna von Ignaz Günther in Augenschein zu nehmen, von der Sie mir erzählt haben.«
    Â»Und?«
    Wenzel ließ einige Sekunden vergehen, ehe er weitersprach. »Ich brauchte nur einen Blick, um festzustellen, dass Ihre Einschätzung des Objekts absolut zutreffend ist. Eine plumpe Fälschung, wenn es je eine gegeben hat.«
    Es klang, als hätte der Baron den Atem angehalten, den er jetzt stoßweise entweichen ließ. »Ja, einem alten Fuchs wie mir macht man kein X für ein U vor. Sie werden Brahms natürlich anzeigen.«
    Â»Natürlich«, bestätigte der Monsignore. »Aber vorher will ich herausfinden, wer ihm die Statue in Kommission gegeben hat. Ich glaube, wir haben es hier möglicherweise mit einem ganzen Ring von Hehlern und Händlern zu tun, die gefälschte oder sogar gestohlene Kunstwerke in Umlauf bringen.«
    Einen Moment herrschte Stille, ehe Salásy vorsichtig fragte: »Und wie wollen Sie da vorgehen?«
    Â»Zuerst werden wir uns diesen Strohmann vornehmen, damit er uns verrät, wer seine Hintermänner sind. Bis dahin werde ich nichts unternehmen, um sie nicht aufzuschrecken.«
    Diesmal dauerte das Schweigen länger, und während es anhielt, erkannte Wenzel, dass ihm ein Fehler unterlaufen war, als er den unbekannten Verkäufer als Strohmann bezeichnet hatte.
    Aber der Baron schien nichts gemerkt zu haben. Viel mehr brummte er nun zustimmend und fragte: »Sie haben also bisher mit niemand über Ihren – unseren – Verdacht gesprochen?«
    Â»Nein. Wer weiß, wie weit diese Kreise reichen …«
    Â»Ja, Monsignore, man kann nie vorsichtig genug sein.« Die Stimme des Barons nahm einen fast heiteren Tonfall an. »Aber gut, dass Sie mich sofort angerufen haben. Ich werde die Augen offen halten. Da fällt mir ein: Ich habe gestern Abend ganz

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