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Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Titel: Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noel Hardy
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überraschend ein Bronzekruzifix aus der Karolingerzeit hereinbekommen. Ihre Meinung dazu würde mich interessieren. Könnten Sie es vielleicht einrichten, heute noch bei mir im Geschäft vorbeizu schauen?«
    Der Monsignore warf einen Blick in den Terminkalender auf seinem Schreibtisch. »Aber gern, mein lieber Baron. Wäre Ihnen gegen Abend recht?«

E mma erwachte und stellte fest, dass ihre Wohnung eiskalt war. Die Heizung ging nur im Sommer, im Winter streikte sie meistens. Emma drehte den Wärmeregler hin und her und kauerte dann, wie eine Indianerin in ihre Decke gehüllt, auf dem Bettrand, bis es im Schlafzimmer wieder wärmer wurde. Mit der Wärme kamen Gerüche zurück: nach rostigem Eisen, dem abgestandenen Wasser in den Heizkörpern, nach Bohnerwachs und sogar nach Essen, das sie nie gekocht hatte. Als lebten nachts, während sie schlief, in ihrer Wohnung fremde Menschen, die am Morgen verschwunden waren.
    Auch der Geruch nach angekokeltem Leder und nassem Gefieder hing wieder in der Luft, und auf einmal wusste Emma, was neu war. Jemand hatte hier gelebt und war tatsächlich nicht mehr da. Nur ein paar Tage und Nächte war Murat bei ihr untergeschlüpft, aber schon fehlte er ihr. Ich könnte einen Erdbeerkuchen backen, dachte sie.
    Mit der Decke um die Schultern ging sie in die Küche. Sie öffnete den Schrank, um nachzuschauen, welche Zu taten sie kaufen musste: Frische Erdbeeren, Backpulver für den Teig, Schlagsahne, Eier, nicht mal den richtigen Zucker hatte sie. Als sie die Kühlschranktür wieder schloss, klingelte das Telefon.
    Am anderen Ende war ihr Vater. »Emma, er ist verschwunden!«
    Â»Wer?«
    Â»Dein Engel.«
    Â»Papa! Wie konnte das –«
    Â»Eben haben wir noch zusammen gefrühstückt, aber kaum hatte er den Tisch abgedeckt, war er plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Bei dir ist er nicht?«
    Â»Nein. Hast du irgendetwas gesagt, das ihn verletzt oder verärgert haben könnte?«
    Â»Du meinst, mehr verletzt oder verärgert, als ihm mit einer Schadensersatzklage wegen Unfähigkeit zu drohen?«
    Emma schnitt eine Grimasse. »Glaubst du immer noch, dass er wirklich ein Engel ist?«
    Â»Natürlich.«
    Â»Aber woher kannst du das wissen?«
    Â»Wenn man etwas weiß, muss man es ja nicht glauben. Glauben muss man wollen. Oder können.«
    Emma schwieg. Sie hatte die halbe Nacht wach gelegen und über Murat nachgedacht. Wie anders sich alles anfühlte, seit er da war. Schon lange hatte sie sich nicht mehr so lebendig, fast glücklich gefühlt wie seit Heiligabend. Vielleicht sollte ich auch einfach glauben, sagte sie sich. Oder nur schauen und fühlen. Und wenn er nicht mein Schutzengel ist, dann kann er es ja noch werden.
    Â»Emma?«
    Â»Papa, ich melde mich wieder«, sagte sie, legte auf und zog sich in fliegender Hast an, um eilig ihre Wohnung zu verlassen.
    Draußen blendete sie strahlend heller Sonnenschein. Der Platz am Ende ihrer Straße funkelte und schimmerte im blitzenden Glanz zahlloser winziger Eiszapfen an den Ästen der kahlen Bäume. Die Luft war klar und der Himmel so blau wie frisch bemaltes Porzellan. Sie hatte keine Ahnung, wo sie den Engel suchen sollte.
    Es waren nur ein paar Stationen mit der Straßenbahn bis zum Erzbischöflichen Ordinariat. Als sie dort eintraf, stellte sie fest, dass alle Türen verschlossen waren. Auch auf ihr Läuten öffnete niemand. Sie holte das Handy heraus und wählte die Nummer des Büros von Monsignore Wenzel, wo sie das Telefon eine halbe Ewigkeit klingeln ließ, ohne dass jemand abnahm.
    Der Schneeball traf sie völlig unvorbereitet. Nicht sehr hart, eher wie ein Tannenzapfen, der von einem Baum auf ihre Schulter fiel. Sie zuckte zusammen und drehte sich um.
    Murat stand halb verborgen hinter einer Litfaßsäule, die Augen blauer als der Himmel, auf den Lippen ein Lächeln, das den Schnee grau aussehen ließ. Er trug noch immer die zerlöcherten Jeans, die Lederjacke und die Turnschuhe mit den stilisierten Abbildungen kleiner Flügel auf der Außenseite. »Volltreffer!«, rief er, während er mit den Händen bereits den nächsten Schneeball formte.
    Â»Da bist du ja!«, rief Emma. »Warum bist du nicht bei Papa geblieben?«
    Â»Du hättest mich warnen sollen!«, rief Murat zurück. »Den ganzen Abend und heute den halben Morgen musste ich mir von deinem

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