der Agentenschreck
sie bei dem Gedanken an ihr Tempo. Vor ihren Augen war
nichts als eine Erdmauer. »Wir zerschlagen das Heckfenster«, beschloß sie. »Werkzeug
liegt angeblich unter dem Rücksitz.« Ihr Hut lag auf dem Boden. Sie hob ihn auf und drückte ihn wieder auf ihren Kopf.
Kurz darauf hatten sie das letzte heile Wagenfenster mit einer Zange eingeschlagen. Debby warf ihren Rucksack ins Freie und kroch hinterdrein. Mrs. Pollifax folgte ihr nicht ganz so anmutig mit ihrem Koffer nach und ließ sich neben ihr ins Gras fallen.
Ihre Hände zitterten heftig, und sie faltete sie in ihrem Schoß.
Hoffentlich werde ich nicht ohnmächtig, dachte sie.
»Werden Sie jetzt das Volkswagenwerk oder Balkantourist verklagen?« fragte Debby
aufgebracht. »Wir hätten ja sterben können.«
Mrs. Pollifax schoß ein Dutzend Antworten durch den Kopf, die sie alle wieder verwarf. Es war vielleicht nicht der geeignetste Augenblick, um Debby zu sagen, daß sich jemand an
den Bremsen zu schaffen gemacht haben mußte, während sie auf dem Shipka-Paß
gegessen hatten. Daß sie noch lebten, war ein Wunder.
Ich sage es ihr lieber später, beschloß sie und wünschte aus ganzem Herzen, Debby wäre
am Morgen trotz ihres gebrochenen Daumens abgeflogen. Allem Anschein nach galten
diese Mordanschläge nämlich Debby.
Ein Bauer, der zwar nicht englisch sprach, trotzdem aber sein ehrliches Bedauern über ihren Unfall bekundete, nahm sie mit.
Er lud sie in seinen verbeulten Lastwagen, bot ihnen Pfirsiche und Zigaretten an und fuhr sie nach Gabrovo. Allerdings nicht zu einer Tankstelle, sondern zur Polizei.
Mit philosophischem Achselzucken fügte sich Mrs. Pollifax ins Unvermeidliche.
Kurz darauf kam ihr bulgarischer Freund mit zwei Polizisten in dunklen Uniformen und
grünen Feldblusen zurück.
Offensichtlich hatte er den Polizisten vom Unfall und dem zurückgebliebenen Wagen
berichtet. Pässe wurden vorgezeigt und ein zweiter Bauer geholt, der etwas englisch sprach, da er einmal ein Jahr in Kansas gearbeitet hatte. Er übersetzte, daß die Polizei die Lage der amerikanischen Touristen zutiefst bedaure.
Die entsprechenden Stellen würden verständigt und der Wagen zur nächsten Nempon-Stelle
abgeschleppt. Man würde sie in Tarnovo benachrichtigen, sobald der Wagen wieder
fahrbereit war.
Bis dahin hätten sie leider nichts anderes als ein Motorrad anzubieten, sagten sie unter tausend Entschuldigungen.
»Ein Motorrad?« fragte Mrs. Pollifax mißtrauisch.
»Herrlich!« rief Debby entzückt. »Ich kann Motorrad fahren. Daheim mache ich das oft.«
Und so brausten Mrs. Pollifax und Debby auf einem Motorrad nach Tarnovo. Debby saß
vorn, das Gepäck war am Rücksitz angeschnallt und dazwischen war Mrs. Pollifax
eingezwängt, die sich mit einer Hand an Debbys Gürtel klammerte und mit der anderen
ihren Hut festhielt.
12
Tarnovo war für Mrs. Pollifax eine Überraschung. Es erstreckte sich über sechs Kuppen des Gebirgsstockes.
Zwischendurch zerschnitten tiefe Schluchten des Yantraflusses den Ort. Häuser hingen windschief an den Felsufern. Im Talboden plätscherte der Yantra, der stellenweise kaum sein Flußbett ausfüllte. Die abgelegene Altstadt schien in den Himmel und die Wolken zu ragen. Sie war dereinst die Hauptstadt eines uralten Reiches gewesen, des zweiten bulgarischen Königreiches, und die Überreste der Burg krönten den Tsavaretsberg. Ein steinernes Tor stammte aus dem Jahr 1185 und bildete den einzigen Zugang zur Burg, die durch den Fluß, der sich eine halbe Meile tiefer um den Berg wand, beinahe uneinnehmbar war.
Das Hotel Yantra war ein bescheidenes Gebäude in einer steilen Straße mit Kopfsteinpflaster. Hinter dem offenen Eingang lag eine staubige Halle mit einer staubigen Ledercouch und einem Glaskasten mit Andenken: Trachtenpuppen, Ansichtskarten, einige Tuben Zahnpasta und Zigaretten.
»Pollifax«, sagte sie zu der Frau beim Empfang.
Die Frau reichte ihr Papier und Bleistift, und Mrs. Pollifax schrieb ihren Namen auf.
Nachdem die Frau ihn angestrengt buchstabiert hatte, stieß sie einen Erkennungsschrei aus. Sie läutete, griff nach einem Schlüssel und übergab ihn zusammen mit einem großen Briefumschlag.
Mrs. Pollifax riß das Kuvert auf und entnahm ihm folgende mit Maschine geschriebene Nachricht: Im Mondlicht ist der Tsavaretsberg besonders romantisch. Heute abend gegen zehn Uhr, zwischen Tor und Burg.
Ihr Herz klopfte rascher. Sie zerknüllte den Zettel, steckte ihn in ihre Handtasche und wandte sich
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