Der Alchimist von Krumau
Schwester, bis Lenka rittlings über dem Maître stand, die Röcke gelüpft bis zum Nabel.
»Seht Ihr das Teufelchen: wie’s nach draußen spitzt?«
Er schloss die Augen. Die Grenze zwischen Tag und Traum schien doch weit weniger verlässlich, als eben der Fischspuk im Rittersaal ihm vorgegaukelt hatte.
Wie aus weiter Ferne hörte er die Stimmen der Zwillinge, die sich flüsternd berieten. Er hielt seine Lider gesenkt, draußen heulte der Sturm, das Kaminfeuer prasselte; irgendwann schlief er ein.
D’Alembert erwachte von Neuem, als es draußen schon dämmerte. Das Kaminfeuer war zu einem glühenden Häuflein zusammengesunken, die Rapporte lagen säuberlich gestapelt auf dem Hirschsofa über ihm. Er rappelte sich auf und sah nach links und rechts, gebannt von dem Eindruck, dass Fabrio und Lenka noch bei ihm waren und sich hinter den Vorhängen oder unter seinem Tisch verbargen. Aber er konnte sie nirgendwo entdecken, und dann wurde ihm noch unheimlicher zumute, da er sich mit fiebriger Folgerichtigkeit sagte: Also waren auch die beiden nur im Traum bei mir.
Er sank auf sein Sofa, wo vorhin noch die Zwillinge gesessen hatten, oder auch nicht. Er zündete eine Kerze an, nahm den nächsten Rapport zur Hand und hielt ihn so, dass die Flamme ihren zitternden Schein darüber verbreitete.
»Ein halbes Dutzend Küferlehrlinge wurde am 5. Oktober 1607 A.D. ins Hospiz neben dem Pulverhaus verbracht«, las er.
»Alle Befallenen klagten über Brustschmerzen, Schwindel, fiebrige Hitz, alle wiesen rote Feuerwunden an ihren Körpern auf. Auf Anordnung von Medikus Kasimir von Rosert wurden sie der vorgeschriebenen Kur unterzogen.«
»Vier Kuchelmägde am 11. Oktober 1607 A.D. ins Hospiz eingeliefert. Die Maiden leiden unter Herzdrücken, Leibeshitze, fiebrigem Sausen, roten Feuerwunden an Beinen und Bauch. Auf Anordnung des Medikus der vorgeschriebenen Kur zugeführt.«
D’Alembert blätterte weiter, bis er auf einen Bericht stieß, der seiner Aufmerksamkeit anscheinend entgangen war: »Als die Herren Unçerek und Fondor von den Geschwistern Pjotr und Dusa erfahren, die, obwohl beide die Pestzeichen aufweisen, von ihrer Familie im Weiler Vargasz versteckt werden, machen sie sich augenblicks auf den Weg. Drei Fahrstunden von Krumau ist Vargasz gelegen, die nördlichste Siedlung der Grafschaft.
Klamme Witterung, grauer Gries mischt sich in den Regen, bis zu den Achsen pflügt die Kutsche durch Fahrrinnen und Pfützen, die mit glitzerndem Eis überzogen sind. Fondor wärmt seine Hände hinten am Kohlebecken, während Unçerek auf dem Kutschbock hockt und die Rappen erbarmungslos bergan treibt; dann wieder peitscht Fondor, während Unçerek hinten im Kasten sitzt und die Zange auf-und zuschnappen lässt.
Nach der ersten Stunde wird der Regen zum Schneetreiben, nach der zweiten ist der Weg im wirbelnden Weiß kaum mehr zu sehen.
Wolfslichter, die im Unterholz glimmen, und immerzu Schnee: Tücher, Vorhänge, Wände aus Schnee, die lotrecht vor ihnen herniederstürzen.
Wenn Fondor und Unçerek irgendwas zuwider ist, dann dieses endlose, wirbelnde, blendende Weiß, das die herrliche Nachtschwärze schändet, ›kübelweise Eitergries aus Sterngeschwüren‹. Jedenfalls äußern sie sich wenig später mit ungefähr diesen Worten vor den entgeisterten Einwohnern von Vargasz.
Die Klatschmohnblüten schaukeln an ihren Hüten. Niemand weiß, woher Hezilows Gesellen mitten im November diese Ströme immer frischer Klatschmohnblumen beziehen. Andererseits kann es für den Puppenmacher nur eine geringe Herausforderung bedeuten, in seinen Töpfen und Tiegeln etwas so Einfaches wie rote Blumen zu erzeugen.
Manche munkeln, er erschaffe die Mohnblüten aus dem Blut der pestilenzisch Verstorbenen. Andere beteuern, es verhalte sich umgekehrt und die roten Wunden entstünden, indem die Gesellen mit ihren Mohnblüten über die Haut der Unseligen führen oder indem sie bloß den Blütenstaub drüber ausschüttelten, da es alchimistisch verzauberte Blumen seien.
Als Unçerek und Fondor in Vargasz eintreffen, ist es bereits tiefe Nacht. Sie haben sich im weißen Wirbel dreimal verfahren, kochend vor Zorn rumpeln sie durch den Weiler, wo alle dreizehn Menschenseelen in gottgefälligem Schlaf liegen.
Verärgert über die Kälte, die ihre Gliedmaßen zittern und ihre Zahnreihen gegeneinander klappern macht, sowie über den vermaledeiten Schnee, der das Dorf in einen Irrgarten verwandelt, zündet Fondor kurzerhand ein Haus an, eine Scheune
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