Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
achten Geburtstag auf einen Stadtrundflug entführt und ihr hinterher das gleiche Flugzeug als Modellbausatz geschenkt. Sie hatten das ganze Wochenende damit verbracht, es zusammenzubauen, und ihre Großmutter hatte eine winzige Modell-Livvie und eine winzige Modell-Meredith gebastelt, die im Cockpit sitzen durften. Doch als Kyle und Julia gekommen waren, um ihre Tochter abzuholen, war das Modell noch nicht trocken gewesen, und Meredith hatte es nicht mitnehmen können. Sie war in Tränen ausgebrochen und hatte sich geweigert, ins Auto zu steigen, aber Livvie hatte sie ganz fest im Arm gehalten und ihr ins Ohr geflüstert: »Eines Tages kommst du sowieso und wohnst bei mir in der Stadt, mein Spatz. Das weiß ich. Nur Geduld. Und bis dahin denk dran, dass es ein Flugzeug ist und zu dir fliegen kann, sobald es trocken ist.« Jetzt hing ebendieses Modellflugzeug direkt hinter der T ür des Salons. Mein Lieblingsflugzeug, dachte Meredith. In diesem Moment kollabierte der Pfosten, gegen den Herbs Auto geprallt war, und das Dach der Markthalle begrub sie unter sich.
Die Rettungswagen waren innerhalb von Minuten vor Ort, und obwohl es gefühlte hundert waren, schrien immer noch mehr Menschen um Hilfe. Für Meredith jedoch kam jede Hilfe zu spät. Selbst wenn jeder Arzt der ganzen Stadt zur Stelle gewesen und sie die einzige Verletzte gewesen wäre, wäre es zu spät gewesen. Sie war sofort tot. In der Ereigniskette, die zu ihrem Tod geführt hatte, war diese eine Tatsache unabänderlich. Alles andere wäre auf vollständige, schlafraubende, unerträgliche, schreiende, entsetzliche und niederschmetternde Weise vermeidbar gewesen.
Wenn Sam bei ihr gewesen wäre, h ätte er Herbs Mustang vielleicht kommen sehen und sich überlegen können, wie sie am schnellsten wegkamen. Wenn Sam bei ihr gewesen wäre, hätte er Meredith vielleicht auf die völlig überfüllte Treppe und übers Treppengeländer ziehen können. Dann wären sie zwar fast vier Meter in die Tiefe gestürzt, h ätten sich aber schlimmstenfalls das Bein gebrochen. Wenn Sam bei ihr gewesen wäre, wäre er vielleicht mit ihr gestorben. Jede dieser Möglichkeiten wäre unendlich viel besser gewesen als die Tatsache, dass er allein im Salon zurückgeblieben war, weil sie es vorgezogen hatte, ohne ihn verrückt zu spielen. Oder grundsätzlicher: Wenn Sam RePrise nie erfunden hätte, wäre ihre Großmutter einfach nur tot gewesen und hätte sie nie gebeten, Olivenöl und Vorräte zu kaufen. Dann w äre Meredith nicht einmal in die Nähe von Herb Lindquist und der fatalen Zurschaustellung seiner Unabhängigkeit gekommen. Und noch grundsätzlicher: Wenn Sam nicht dafür gesorgt hätte, dass kleine Kinder ihre letzten Tage vor einem Computer verbringen mussten, hätte ihn das Universum vielleicht nicht derart bestraft. Wie sie gestorben war, spielte keine Rolle. Es zählte nur, was sie umgebracht hatte. Was sie umgebracht hatte, war RePrise. Was sie umgebracht hatte, war Sam.
»Ich liebe dich, weißt du das?«, hatte Sam gefragt.
»Ja, das weiß ich«, hatte sie geantwortet. »Ich liebe dich auch.«
Soweit Sam wusste, waren das ihre letzten Worte. Ein kleiner Trost, immerhin.
TEIL DREI
»Kannst mich nicht gleich erwischen, verlier nicht den Mut,
Triffst mich an einer Stelle nicht, so such woanders,
Irgendwo bleib ich und warte auf dich.«
Walt Whitman, Gesang auf mich selbst
S chutt
Die Trauerfeier fand in zwei Teilen statt. Als ob man so etwas in die Länge ziehen wollte, dachte Sam. Julia und Kyle, die am Boden zerstört und innerlich zerbrochen waren, im Grunde nicht mehr zugänglich, bestanden auf so gut wie nichts, außer darauf, dass Meredith verbrannt und ihre Asche bei einer kleinen, privaten Trauerfeier auf Orcas Island verstreut wurde. Dash, der ebenfalls am Boden zerstört, innerlich zerbrochen und nicht mehr zugänglich war, bestand hingegen auf einem riesigen Leichenschmaus, einer gewaltigen, mitreißenden Party, zum Gedenken und Vergessen gleichermaßen. Es war seine Art, damit umzugehen.
Es gab also jede Menge zu tun. Als Erstes musste Sam Kleider für Meredith aussuchen. Er fragte sich, warum es so wichtig war, was sie an dem Tag trug, an dem sie zu Staub und Asche verbrannt wurde, sich in ihre winzigsten Bestandteile auflöste, in die nicht weiter trennbaren Atome ihres Ichs. Die Kleider würden verglühen, in Rauch aufgehen, genau wie ihr Fleisch, ihre Muskeln, ihre Organe – Herz, Hirn, Brüste, die weiche Haut unter ihrem Kinn,
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