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Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)

Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Frankel
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Ohrläppchen, Augenlider, Lippen, Fingerkuppen, Handflächen. Und dann würden ihre Knochen zu Brocken zerfallen, trocken wie die Wüste, trocken wie der Mond, und schließlich zu Staub zermahlen werden, den sie dann beliebig behalten oder verstreuen konnten. Sam hoffte also, man möge ihm verzeihen, dass ihm scheißegal war, welche Kleider zusammen mit der Liebe seines Lebens verbrannt und vergessen wurden, auch wenn er zugeben musste, dass es eine unangenehme Vorstellung gewesen wäre, wenn man sie nackt verbrannt hätte. Überhaupt gab es nur noch unangenehme Vorstellungen für ihn, weshalb sie ihm kaum noch auffielen. Am Ende traf er die Entscheidung aufgrund des Geruchs. Er stand vor ihrem Kleiderschrank, hielt sich jedes Kleidungsstück an die Nase, atmete tief ein und zog Meredith schließlich das Outfit an, das am wenigsten nach ihr roch – also wahrscheinlich das, was sie zuletzt gewaschen oder am wenigsten angezogen hatte. Es war ihm egal.
    Sam musste außerdem die Einäscherung organisieren, musste beim Bestatter anrufen und sich erkundigen, wie und wann seine Freundin zu Asche verbrannt werden sollte. Er musste vor Ort sein und dabei zusehen, und das auch noch allein, weil Julia und Kyle auf ihrer Insel bleiben wollten, weil sie wollten, dass man ihnen die kümmerlichen Überreste ihrer Tochter brachte, weil Dash beschlossen hatte, sich hinter der Partyplanung zu verschanzen, und Sam gesagt hatte: »Nein, schon gut, ich komme allein zurecht; das ist sowieso nur ihr Körper und nicht wirklich sie.« Es dauerte achtundneunzig Minuten, und er ließ jede einzelne über sich ergehen und spürte, wie die Flammen seine eigenen Finger, Augen und Hände, sein eigenes Hirn und Herz verbrannten, als läge er selbst mit ihr in diesem Kasten, was er sich sehnlichst wünschte. Er musste RePrise und den Salon für ein paar Tage zumachen. Er musste es Penny sagen. Und den Hunden. Und bevor er irgendetwas anderes in Angriff nahm, musste er Merediths Daten einlesen und durch den Algorithmus laufen lassen.
    Es war seltsam, ein Beerdigungsinstitut aufzusuchen, obwohl es gar keine Beerdigung gab. Für den Fall einer Einäscherung standen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Man konnte die Asche ins Weltall schießen, man konnte sie in Feuerwerkskörper stecken, man konnte Edelsteine daraus fertigen lassen. Sam entschied sich dafür, die zu Asche zermahlene Meredith einfach nur in einer billigen Plastikdose mitzunehmen, weil Julia versprochen hatte, noch an diesem Nachmittag eine Urne zu töpfern und zu brennen.
    »Ich wusste gar nicht, dass ihr auch Urnen macht«, sagte Sam.
    »Machen wir normalerweise auch nicht, aber eine Urne ist eigentlich auch nur ein größerer Becher ohne Henkel beziehungsweise mit zwei Henkeln statt einem.«
    Ein Becher. Ein Kaffeebecher. Ein Zuhause für Meredith. Für die halbe Meredith. Nicht mal ganz die halbe. Eine Hälfte kam in die Urne, eine Hälfte ins Meer, und zwei winzige Portionen wurden in Medaillons gefüllt – eins für Julia, eins für Sam –, die sie um den Hals tragen konnten, um Meredith bei sich zu haben, um sie sicher zu verwahren, um sich immer an ihren Tod zu erinnern. Diese Nähe zum Tod gefiel Sam besonders daran. Es war der einzige Zustand, nach dem er sich sehnte. Für Julia suchte Sam ein kleines, tränenförmiges Medaillon aus, das dem Inhalt angemessen erschien. Für sich selbst wählte er ein Medaillon in Form eines winzigen Flugzeugs. Um sich an sie zu erinnern, sie zu ehren, um auszubrechen, zu fliehen, zu fliegen.
    Dashs Eltern kamen nach Seattle gereist, genau wie Sams Vater, und dann fuhren sie mit zwei Autos nach Anacortes und nahmen von dort die F ähre. Die Überfahrt war kalt, regnerisch und lang, aber Sam blieb an Deck, wo der Wind seine Haare zauste und die Nässe seine Wangen benetzte und er unkontrolliert zitterte. Aber er fühlte sich hier wohler als drinnen, wo es warm und trocken war und er trotzdem unkontrolliert gezittert hätte. Julia und Kyle warteten am Fähranleger , und sie holten sich zuerst einen Kaffee zum Mitnehmen, weil selbst trauernde Menschen Koffein brauchen und bitter die einzige Geschmacksrichtung war, die sie noch schmeckten. Dann fuhren sie ans andere Ende der Insel, wo das Töpferstudio und ein windgepeitschtes, abgeschiedenes, winziges Stück Strand lag, an dem Meredith als Kind an langen Sommerabenden gespielt und sich geweigert hatte, ins Haus zu kommen und schlafen zu gehen. Dort standen sie und umklammerten ihre

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