Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
hübsch und geschmackvoll und mit winzigen, detailgetreuen Winterlandschaften bemalt, während andere von der zweiten Penny stammten und aussahen, als hätte sie ein Vorschulkind gestaltet: ein wildes Durcheinander aus Glitzerstaub, Glassteinen und Schleifchen, um das Penny zusätzlich Pfeifenreiniger gewickelt hatte. Als sie ihre Gl äser an die Anwesenden verteilte, waren ihr die unordentlichen sichtlich ein wenig peinlich, aber bei den Winterlandschaften, die ihr trotz ihrer zittrigen Hände gelungen waren, leuchteten ihre Augen. Mit ihrer Herzlichkeit verbreitete sie überall Weihnachtsstimmung, aber ansonsten war es eine eher gedämpfte Feier. Josh erschien mit einer Sauerstoffflasche im Schlepptau, und David erzählte allen, dass er zwar bereits eine Zulassung für Stanford habe, aber nicht sicher sei, ob er hingehen würde. Er und Kelly wirkten niedergeschlagen. Emmy kam auf einen Sprung vorbei, um ein Geschenk für Mr. und Mrs. Benson abzugeben, und selbst Oliver wirkte kleinlaut. Es war ein trüber Heiligabend, aber das schien niemandem etwas auszumachen. Alle hatten das Gefühl, genau hierherzugehören.
Im Laufe des späten Nachmittags machten sich die Kunden nach und nach auf den Heimweg. Es war bereits stockdunkel draußen. Dash rannte nach oben, um zur Feier des Tages einen Cheddar auszupacken – er hielt den Anlass für passend –, während Sam alle Lichter bis auf die Beleuchtung des Weihnachtsbaums ausknipste und dann im Dunkeln durch den Salon ging, um die Computer herunterzufahren. Als er irgendwann den Blick hob, sah er, dass es schneite. Als er das nächste Mal aufblickte, stand Merediths Mutter vor der Glastür des Salons.
Julia sah aus wie ein Gespenst. Sie sah aus wie ein Engel. Beides erschien Sam logisch, bis ihm klar wurde, dass sie echt war. Er fragte sich, wie oft er die Lebenden in seinem Leben noch mit den Toten verwechseln würde. Und umgekehrt. Julia war weiß wie der Schnee, weiß wie der Mond, was nicht nur an ihrer Blässe lag. Ein helles Licht schien von ihr auszugehen, leuchtend, phosphoreszierend. Sie war ganz in Weiß gekleidet – Jacke, Schal, Mütze, Handschuhe – und so eingemummt, dass Sam nur ihre Augen und ihre weißen Haare sehen konnte, die ihr üppig auf die Schultern fielen. Lange standen sie so da, Sam auf der einen Seite der Tür und Julia auf der anderen, und sahen sich an, ohne zu blinzeln oder Luft zu holen. Julias Augen sahen gleichzeitig wirr und entschlossen aus und weise, aber vielleicht auch nur gepeinigt und besiegt. Vor allem aber sahen sie aus wie Merediths Augen. Vielleicht war es dieser Umstand und nicht das weiße Licht, der in Sam Assoziationen an Gespenster und Engel wachrief. Endlich machte er die Tür auf. »Frohe Weihnachten«, sagte er.
»Frohe Weihnachten, Sam.«
»Wo ist Kyle?«
»Ich bin allein hier.«
»Eigentlich bin ich fertig hier . Dash ist schon oben und kümmert sich ums Abendessen. Komm doch mit hoch.«
»Ich muss sie sehen.«
Sam hatte von Anfang an gewusst, warum Julia da war, schon als er sie an der Tür entdeckt hatte. Er hatte sie seit der Trauerfeier nicht mehr gesehen, wusste aber, dass Dash sie bereits ein paarmal nach Seattle eingeladen und angeboten hatte, sie auf der Insel zu besuchen. Auch Dashs Eltern hatten erfolglos versucht, sich mit Julia und Kyle zu treffen. Sam konnte das Bedürfnis gut verstehen, sich zu verkriechen, jede Gesellschaft zu meiden, allein zu sein, sich einzumauern und abzuschotten. Das war allerdings auch schon alles, was er in letzter Zeit verstand. Während Dash sich also Sorgen gemacht und Pläne geschmiedet hatte, wie er Julia aus der Einsamkeit locken konnte, hatte Sam von Anfang an vollstes Verständnis für sie gehabt und war gerne bereit gewesen, sie in Ruhe zu lassen. Aber jetzt war sie da und schälte sich bereits aus ihrer Kleidung, steuerte auf einen Laptop zu und klappte ihn auf, als würde ihre Tochter automatisch auf dem Monitor erscheinen.
» Dash hat beschlossen, dass er zur Feier des Tages einen Käse springen lässt.« Sam versuchte diese Tatsache als gute Neuigkeit zu verkaufen. »Wusstest du überhaupt, dass er selbst Käse herstellt? Lass uns hochgehen und Hallo sagen .« Er versuchte sie am Ellenbogen zurück zur Tür zu führen, aber sie machte sich los.
»Ich gehe nicht hoch. Ich gehe nicht in diese Wohnung.«
»Das verstehe ich. Dann lass mich kurz hochflitzen und Dash Besch…«
»Man kann es doch auch hier machen, oder? Dafür ist dieser Raum doch da, nicht
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