Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
nic ht. Du fandest es krank. Und falsch.«
»Ich muss sie sehen.«
»Sie ist nicht mehr da.«
»Doch, ist sie. Du hast sie ! «
»Hab ich nicht. Glaub mir, i ch habe sie nicht.« Jetzt strömten ihnen beiden Tränen über die Wangen, und zwar nicht von der sanften, anmutigen Muttergottes-Sorte, die stumm über heilige Wangen rinnt und dem weihnachtlichen Anlass angemessen gewesen wäre. »Außerdem glaube ich, dass du damals recht hattest«, stammelte Sam, sobald er wieder sprechen konnte. »Unsere Absicht bestand darin, den Leuten zu helfen, sich von ihren Verstorbenen zu verabschieden. Aber das tun sie nicht. Wir wollten den Leuten bei ihrer Trauer helfen und dafür sorgen, dass sie ein bisschen schneller darüber hinwegkommen, aber in Wirklichkeit hält RePrise sie davon ab, zu trauern und darüber hinwegzukommen und sich weiterzuentwickeln und nach vorne zu blicken. Es muss wehtun, sich an einen verstorbenen Menschen zu erinnern. Man muss leiden. Wir erlösen die Menschen zwar von dieser Qual, aber wir bringen sie auch um die Kraft, die sie daraus letzten Endes schöpfen.« Er presste die Handflächen vors Gesicht. »Jedenfalls steht fest, dass du RePrise für eine schreckliche Idee gehalten hast, als du klar denken konntest, als du bei Sinnen warst, also werde ich ganz sicher nicht zulassen, dass du es jetzt benutzt.«
Dash hatte angefangen, sich Sorgen zu machen, und war nach unten gekommen, um nachzusehen, wo Sam blieb. »Tante Julia!«, rief er mit vorgeschützter Begeisterung, obwohl er genauso gut wie Sam wusste, warum sie da war.
Wütend drehte sie sich zu ihrem Neffen um und wischte sich heftig über Augen und Nase. »Sprichst du etwa auch mit ihr?«
»Manchmal«, gestand Dash, dem sofort klar war, was sie meinte . »Aber nicht sehr oft. Es ist einfach nicht dasselbe. Das mag bescheuert klingen, weil es ja offensichtlich ist, aber ich empfinde es nicht als besonders befriedigend. Es stillt nicht den Schmerz und nicht die Sehnsucht.« Er zuckte mit den Schultern. »Bei manchen funktioniert RePrise eben besser als bei anderen. Bei Meredith und mir klappt es nicht so gut, das ist einfach nicht unser Ding. Bei dir würde es sowieso nicht gehen, weil du zu Merediths Lebzeiten nicht genug elektronisch mit ihr kommuniziert hast. Selbst wenn Sam dich lassen würde, würde es dir nichts bringen.«
»Ich muss ihr aber sagen, dass ich sie liebe.« Julia wusste, dass sie verloren hatte.
»Das hat sie gewusst«, sagte Dash.
»Und ich muss mich bei ihr entschuldigen.«
»Wofür ?«
»D ass ich ihr neues Leben nicht unterstützt habe. Und schreckliche Dinge über RePrise gesagt habe.«
»Wieso?«, fragte Sam. »Du hattest doch vollkommen recht.«
U m der alten Zeiten willen
Zwischen Weihnachten und Neujahr blieb der Salon geschlossen. Die Kunden gingen nach Hause zu ihren Familien, Dash kehrte zu seinen Klamotten in L. A. zurück, Julia fuhr nach Hause, um mit Kyle zu trauern, Penny bekam Besuch von ihren Kindern und Enkeln, und Sam zog sich ins Schlafzimmer zurück, um mit Meredith allein zu sein.
Mitte der Woche rief Jamie an und fragte, ob Sam mit zum Skifahren wolle, aber er lehnte ab.
»D ie Bergluft würde dir aber guttun«, argumentierte Jamie.
»Nein, danke.«
»Ein bisschen Bewegung vielleicht?«
»Nein, danke.«
»Was, wenn ich ›nein, danke‹ nicht gelten lasse?«
»Die Alternative dazu fällt auch nicht positiver aus «, warnte Sam. »Nur unhöflicher.«
Jamie überlegte und sagte dann: »Also gut, Sam. Für den Moment lasse ich dich in Ruhe. Aber verwechsle das bloß nicht mit Desinteresse.«
»Tu ich nicht«, versicherte ihm Sam. »Versprochen.«
»Und glaub ja nicht, dass ich mich immer so leicht abspeisen lasse. Ab nächster Woche belästige ich dich so lange, bis du nachgibst.«
»Ich kann’s kaum erwarten«, erwiderte Sam .
Irgendwann kam Pennys Tochter Katie nach oben, um ihn zum Mittagessen einzuladen, aber er wies auch dieses Angebot zurück.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag fuhr Avery Fitzgerald mit ihren Kindern nach Vancouver und fragte, ob er mitwolle, aber Sam wollte nicht. Meredith hatte ihn diese Woche schon dreimal gefragt, ob er mit ihr ins Kino wolle. Das wäre das Einzige gewesen, zu dem er Ja gesagt hätte.
Dash schrieb ihm eine SMS , dass er endlich das Schlafzimmer verlassen sollte.
»Wie kommst du darauf, dass ich das nicht längst getan habe?«, schrieb Sam zurück.
»Ich kenne dich«, tippte Dash.
»Ich komme schon klar« , schrieb Sam.
»Du brauchst
Weitere Kostenlose Bücher