Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
mehr Frieden geben?«
»Keins von beidem. Frieden gibt es für mich nicht. Der Zug ist schon lange abgefahren.« Josh schwieg eine Weile. Dann fügte er hinzu: »In gewisser Hinsicht hat Meredith Glück gehabt, Sam.« Sams Augen füllten sich sofort mit Tränen, aber er hörte aufmerksam zu. »Von einem Dach erschlagen zu werden ist ein Spitzentod. Viel zu früh natürlich, aber wenigstens hat sie es nicht kommen sehen, musste nicht leiden und jahrelang mit Krankheit und Erschöpfung kämpfen. Ihr sind die Angst und das Bedauern und die Traurigkeit erspart geblieben, mit denen die Menschen mich ständig ansehen. Das ist das Allerschlimmste. Diese Blicke verfolgen mich überallhin. Und weil ich gerade alles zum letzten Mal erlebe, wird meine Mutter für immer diesen traurigen Gesichtsausdruck behalten. Es wird mir nie wieder gut gehen. Alles ist unendlich traurig, jede einzelne Minute. Es ist schrecklich, damit zu leben. Es ist schrecklich, daran zu sterben. Von einem Dach zerquetscht zu werden ist tausendmal besser als Leukämie.«
»Und ein Leben, nachdem die eigene Freundin von einem Dach zerquetscht wurde?«
»W eiß nicht«, gab Josh zu. »Das kommt mir noch viel, viel schlimmer vor.«
L iebesbrief
Liebe Merde,
eine Zeit lang, ganz am Anfang, dachte ich, dass E-Mails ein Auslaufmodell wären. Video-Chats kamen mir so viel aussagekräftiger und unmittelbarer und echter vor. So viel gegenwärtiger. Jetzt, wo ich selbst RePrise nutze, wird mir klar, dass Video-Chats genauso viel mit Abwesenheit wie mit Anwesenheit zu tun haben, vielleicht sogar noch mehr, während E-Mails vollkommen präsent sind, vollkommen gegenwärtig. Man hat länger etwas davon, kann sie voll auskosten. In einer E-Mail kann ich alles ausdrücken, was ich ausdrücken möchte, und zwar genau mit den Worten, die ich im Sinn habe. Und dann schreibst du zurück, und deine E-Mails stecken genauso voller Liebe und Sehnsucht. Ich kann sie immer wieder lesen und wie einen Schatz hüten, sie sind wie ein Faden, den ich weiter von der Spule rollen kann, wenn er ans Ende gekommen ist. Ab und zu spreche ich mit Livvie. Sie ruft natürlich an, weil sie mit dir sprechen will, und ich sage dann immer, dass du beim Yoga bist und zu spiritueller Erleuchtung gelangst, was ja wenigstens nicht vollkommen gelogen ist, soviel ich weiß. Anfangs hat sie nicht verstanden, warum du immer weg bist und plötzlich überhaupt nicht mehr anrufst, nachdem du dich vorher so oft bei ihr gemeldet hast. Ich weiß, dass sie kein echter Mensch ist, und trotzdem bringe ich es nicht übers Herz, ihr die Wahrheit zu sagen. Ich weiß, dass sie nicht echt ist, aber wie ich dich kenne, würdest du trotzdem darauf bestehen, dass man sie – es – nicht im Unklaren lassen darf. Ich habe erwogen, sie einfach zu löschen, aber ich konnte es nicht. Es macht mich fertig, Merde, es macht mich fertig, drei, vier, fünf Mal die Woche mit deiner Großmutter sprechen und ihr versichern zu müssen, dass es dir gut geht und alles beim Alten ist und seinen geregelten Gang geht. Dass unser neues Unternehmen floriert und wir ein fantastisches Leben vor uns haben, dass du dir Zeit nimmst für dein Yoga und auf dich achtest und müde, aber glücklich, biegsam und stressfrei nach Hause kommst. Dass du sicher jeden Moment wieder da bist und ich dir selbstverständlich ausrichten werde, dass sie angerufen hat, und dass du sie zurückrufen wirst und wir uns bald, sehr bald ein paar Tage freinehmen werden, um sie gemeinsam in Florida zu besuchen. Wenn ich ihr das versprochen habe, legt sie zufrieden auf, und dann geht das Spielchen am nächsten Abend wieder von vorne los und am übernächsten Abend auch, und dazwischen streife ich durch ihre leere Wohnung, unsere leere Wohnung, und weiß, dass ich zwar jederzeit mit Jamie oder Dash oder Josh oder einem unserer Kunden ausgehen oder Penny zum Abendessen einladen könnte, aber dennoch ganz allein wäre.
Deshalb sind E-Mails besser als Video-Chats. Deshalb haben Video-Chats mehr mit Abwesenheit zu tun als mit irgendetwas sonst.
In Liebe,
Sam.
W er stirbt ist noch lange nicht tot
Der Januar ist ein trostloser Monat in Seattle. Zwar ist es jeden Tag ein bisschen länger hell, aber ohne den Glanz und die Lichter der Weihnachtszeit wirkt alles umso düsterer. Um halb fünf Uhr nachmittags ist es stockfinstere Nacht, und erst gegen acht am nächsten Morgen wird es wieder hell. Da die Sonne kaum über den Horizont steigt und die ständige Wolkendecke und der
Weitere Kostenlose Bücher