Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
Needle. Sam schnappte sich einen Rollstuhl vom Flur und stibitzte zusätzliche Decken aus einem Schrank im Nebenzimmer, das leer stand. Darin wickelte er Josh wie eine Mumie ein (»Ich bin doch noch gar nicht tot«, protestierte dieser) und fuhr mit ihm nach oben. Auf dem Dach befand sich überraschenderweise ein kleiner Garten mit einer Bank. Sam vermutete, dass viele kranke und sterbende Menschen den Wunsch verspürten, hier draußen zu sitzen. Von der Bank aus beobachteten Josh und er das Feuerwerk und ihren eigenen Atem.
»Was wünschst du dir vom n euen Jahr?«, fragte Sam nach einer Viertelstunde.
»Dass es schnell geht und bald vorbei ist«, antwortete Josh nach langem Zögern. »Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sage, aber es stimmt. Nachdem ich meine Diagnose bekommen habe, wollte ich nichts als kämpfen. Ich war mir sicher, dass ich den Krebs besiegen wür de, obwohl ich nicht mal ansatzweise wusste, was das bedeutet. Aber ich war mir trotzdem sicher, dass ich es schaffe, daran hatte ich keinerlei Zweifel. Irgendwann wurde ich gebeten, eine Patientenverfügung auszufüllen. Du weißt schon, ob ich mal auf Wiederbelebung und lebensverlängernde Maßnahmen verzichten möchte und so was alles, aber ich habe nur gesagt: ›Nicht nötig, Leute. Ich möchte auf jeden Fall immer wiederbelebt werden, egal, was ist.‹ Aber jetzt bin ich unendlich müde und fühle mich die ganze Zeit beschissen und habe wirklich keine Lust mehr, mich so zu fühlen. Außerdem weiß ich, dass es vorbei ist. Es wäre nur eine unnötige Qual, das Ende hinauszuzögern. Vielleicht ist das das einzig Gute an Leukämie: dass es so schlimm wird, dass einem das Sterben nichts mehr ausmacht. Mann, ich bin ganz schön deprimierend, oder?«
»Schon okay«, sagte Sam.
»Meine Familie und meine Freunde leben größtenteils weiter weg, und ich kommuniziere mit ihnen hauptsächlich per E-Mail oder Video-Chat oder Facebook. Deshalb kann ich mit ihnen nicht über diese ganzen Sachen sprechen. Ich will nicht, dass meine Projektion nach meinem Tod nur ein Thema kennt und meine Mutter für den Rest ihres Lebens mit mir übers Sterben sprechen muss. Also habe ich jemanden gebraucht, der persönlich vorbeikommt.«
»War mir ein Vergnügen« , versicherte Sam. »Natürlich tut es mir leid, dass das überhaupt nötig ist, aber ich freue mich, wenn ich helfen kann. Wirklich.«
»Und wie ist es mit dir?«, fragte Josh. »Was wünsch st du dir vom neuen Jahr?«
»Dasselbe«, antwortete Sam. »Dass es schnell geht.«
»Also, i ch weiß nicht. Ich muss auch wirklich keine Pläne mehr fürs neue Jahr schmieden, aber du schon. Du fühlst dich vielleicht, als würdest du sterben, aber du wirst trotzdem jeden Morgen aufwachen. Was willst du mit deinem Leben anfangen?«
»Arbeiten. Schlafen. Es durchstehen.«
»Ich wünschte, ich könnte dir dabei Gesellschaft leisten . Ich mag dich«, sagte Josh. »Aber andere Leute mögen dich auch, musst du wissen.«
»Ich will aber niemanden sehen.«
»Kann sein , aber die wollen dich sehen. Du musst das alles nicht alleine durchstehen, du darfst es gar nicht alleine durchstehen. Und zwar nicht, weil du mit Meredith sprechen kannst, sondern weil du jetzt eine Familie hast. Selbsthilfegruppen sind nicht mein Ding. Zu deprimierend, zu viel Trauer und Einsamkeit. Aber deine Kunden? Die zeigen Eigeninitiative, ergreifen drastische Maßnahmen. Sie zerfließen nicht in Selbstmitleid, sondern nehmen Risiken auf sich. Das sind keine Hinterbliebenen, sondern neue Menschen. Und sie stehen geschlossen hinter dir. Erstens, weil sie dir etwas schuldig sind, und zweitens, weil sie dich mögen. Sie mögen dich und verstehen dich. Diese Leute sind die beste Gesellschaft, die du dir wünschen kannst, sie werden sich gut um dich kümmern.«
Sam zuckte mit den Schultern, als sei das völlig nebensächlich. »Und wer kümmert sich um dich?«
»Du«, antwortete Josh. »Du wirst mit mir reden, wenn ich tot bin, nicht wahr?«
»Wenn du das möchtest?«
»Ja, sehr gerne. Ich verspreche auch, dass ich nicht halb so deprimierend sein werde wie jetzt.«
»Natürlich rede ich mit dir«, sagte Sam. »Und du kannst auch alle anderen vorbeischicken – deine Eltern und Freunde und Verwandten. Dann richte ich sofort ein RePrise-Konto für sie ein. Umsonst natürlich.«
»Danke, Kumpel. Kannst du auch Noel Bescheid sagen?«
»Klar.«
» Was sagst du ihm: dass ich gestorben bin oder dass es mir besser geht?«
»Was würde deiner Seele
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