Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
unaufhörliche Regen dafür sorgen, dass man sie sowieso nicht sehen würde, sind Januartage in Seattle verschleiert und diffus. Sam kam allmählich zu der Überzeugung, dass Jamie recht damit hatte, die britische Reaktion auf dieses Wetter vorzuziehen: Bier statt Heißgetränk. Die dämmrige, verwinkelte Enge und die betäubende Wirkung, die ein Pub verhieß, waren der heiteren, anregenden Betriebsamkeit der Coffeeshops, die sich in Seattle an jeder Ecke drängten, eindeutig vorzuziehen. Was war so toll daran, dass man dafür wachgerüttelt und angeregt werden wollte? Nicht nur Sam war deprimiert, auch jeder andere Bewohner Seattles, der es sich aussuchen konnte, blieb im Januar zu Hause und im Bett. Nur Livvie war einigermaßen fröhlich, aber die war ja auch in Florida und außerdem tot.
Selbst die RePrise-Kunden blieben zunehmend zu Hause. Das lag zum einen an Dunkelheit und Nässe und zum anderen daran, dass sie zwar den Stress gemeistert hatten, den es bedeutet, an Weihnachten auf einen geliebten Menschen verzichten zu müssen, nun aber feststellen mussten, dass es danach nicht besser wurde und ein ganzes Leben in Einsamkeit und Sehnsucht auf sie wartete. Manche kamen trotzdem, aber das Wunder RePrise verlor allmählich seine Wirkung, nutzte sich ab, zermürbte die Leute. Sie waren es leid, immer wieder die gleichen Gespräche zu führen, immer wieder dieselben Themen zu meiden, ihre Unterhaltungen immer um die Vergangenheit kreisen zu lassen und nie um die Zukunft. Sie waren es leid, immer nur die Person zu sein, die sie vor dem Tod ihres Angehörigen gewesen waren, und nie die, die sie heute waren. Sie konnten RePrise nicht aufgeben, aber es verschaffte ihnen auch nicht mehr die Euphorie wie früher. David Elliot überlegte, ob man nicht wie bei einer Droge die Dosis erhöhen könnte, um genauso high zu bleiben wie vorher. Avery Fitzgerald unterstellte ihm daraufhin, dass er bei den Drogenaufklärungsveranstaltungen seiner Schule nicht richtig aufgepasst hatte.
Sam hatte das alles längst hinter sich und verließ das Schlafzimmer nach Möglichkeit überhaupt nicht mehr. Dash gab sein sanftes Drängen auf, er solle doch an die frische Luft gehen und sich mit echten Menschen treffen, um auf andere Gedanken zu kommen, und verlegte sich stattdessen darauf, an sein schlechtes Gewissen zu appellieren: »Du bist die eine Hälfte dieses Unternehmens, und ich sehe nicht ein, warum ich es ganz alleine führen soll. Der Salon muss jeden Tag besetzt sein, nicht nur, wenn dir danach ist. Außerdem ist es unprofessionell, am Arbeitsplatz ein mürrisches Gesicht zu ziehen und Trübsal zu blasen. Unsere ganze Existenz steckt in RePrise, und du versuchst, das Unternehmen zu sabotieren.« Und so weiter und so fort. Als das auch nicht funktionierte, versuchte es Dash mit Flehen: »Es gibt uns doch erst ein Jahr! Gib uns wenigstens eine Chance, es war doch klar, dass es Anfangsschwierigkeiten geben würde. Du hast bereits so vielen Menschen geholfen. Wir müssen durchhalten, das sind wir Meredith schuldig.«
Sam sagte: »Lass RePrise sterben. Alle anderen haben es doch auch längst aufgegeben.«
»Was ist mit unseren Stammkunden ?«, fragte Dash.
»Die können meinetwegen dableiben. Die meisten kommen doch gar nicht mehr, um RePrise zu nutzen. Wir sind zu einer Selbsthilfegruppe verkommen. Das könnten die Kunden zwar auch woanders finden, aber ich stelle ihnen gerne den Salon zur Verfügung. Mich brauchen sie dafür nicht mehr. Selbsthilfegruppen kommen völlig ohne Technik aus.«
»Nur weil die Leute mal eine Woche wegbleiben, heißt das noch lange nicht, dass sie die Nase voll haben von RePrise «, widersprach Dash. »Auße rdem kommen jede Woche neue Kunden.«
»Die unser kleines Computerprogramm auch bald leid sein werden.«
»Das ist doch auch Sinn und Zweck der Sache, weißt du nicht mehr ? Genau das wollten wir damit erreichen. Meredith hat zwar behauptet, dass der Tod einen ein Leben lang begleitet, aber du hast gesagt, dass wir den Leuten nur helfen, darüber hinwegzukommen und nach vorne zu blicken. Du hast gesagt, dass es nie für die Ewigkeit gedacht war. Insofern ist es positiv und nicht negativ, dass die Faszination irgendwann nachlässt. Sonst verbringt man nämlich jeden verdammten Tag seines restlichen Lebens mit seiner toten Freundin im Bett. Jemand stirbt, man leidet, man benutzt RePrise. Man fühlt sich ein bisschen besser und steht den Heilungsprozess ein wenig unversehrter durch als ohne RePrise,
Weitere Kostenlose Bücher