Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
zu Sam setzen, aber diesen Gefallen konnte er ihnen nicht tun. Er konnte nicht einfach dasitzen, er konnte keine Gesellschaft ertragen, und er konnte vor allem nicht zulassen, dass ihn jemand tröstete. Und auf eindeutige, schonungslose, abrupte Weise konnte er auch selbst keinen Trost bieten. Er konnte RePrise bieten, das war alles. Mehr hatte er nicht. Für alles andere fehlte ihm die Energie.
Der einzige Vorteil daran, im Februar durch Seattle zu laufen, besteht darin, dass niemandem auffällt, dass man weint, weil ohnehin so viel Wasser vom Himmel kommt. Sam hatte längst keine Tränen mehr, aber er ging trotzdem spazieren. Durchweicht, bis auf die Knochen durchgefroren und zitternd war genau der richtige Zustand für ihn. Dann klingelte sein Handy, und von allen Lebenden war die einzige Person dran, deren Anruf er entgegenzunehmen bereit war.
»Josh ist gestorben«, begrüßte Sam seinen Vater. »Und Penny geht es auch nicht gut.«
»Das tut mir schrecklich leid, Sam.«
»Was soll ich denn jetzt tun?«
»Ich fürchte, da kannst du nicht viel tun.«
»Wir richten die Totenwache für Josh aus. Und helfen Pennys Kindern.«
»Das ist gut.«
»Aber es reicht nicht.«
»Mehr kann man nicht tun, Sam. Was tut ihr, du und Dash, eigentlich für euch selbst?«
Sam tat diese Frage als irrelevant ab. »Ich will, dass du mir dabei hilfst, RePrise zu verbessern.«
»RePri se funktioniert einwandfrei, Sam.«
»Penny hat gesagt, dass RePrise eigentlich für Sterbende ist. Es tröstet sie, dass sie ihre Kinder nicht endgültig im Stich lässt. Josh hat auch gesagt, dass er durch RePrise das Gefühl hat, nach seinem Tod nicht wirklich weg zu sein.«
»Aber … ?«
»Aber er ist wirklich weg.«
»Ja.«
»… «
»Sam? Hast du geglaubt, du könntest das Programm so weit optimieren, dass es Leben rettet? Dass es Krebs heilt? Dass es das Altern abschafft?«
»Ja«, flüsterte Sam schließlich.
» Das ist unmöglich «, sagte sein Vater. »Tut mir leid.«
»Ich hätte Arzt werden sollen.«
»Glaubst du, du könntest den Tod abschaffen, wenn du Arzt wärst?«
»Nein, aber vielleicht Krankheiten heilen.«
Sein Vater seufzte. »Als Meredith gestorben ist, hatte ich das Gefühl, dich irgendwie im Stich gelassen zu haben. Dein ganzes Leben lang habe ich versucht, dich zu unterstützen und vor Gefahren zu bewahren, aber das schien alles plötzlich keine Rolle mehr zu spielen, weil ich es nicht geschafft hatte, dich vor der Sache zu beschützen, bei der es am wichtigsten gewesen wäre. Sicher, du hast eine gute Ausbildung genossen und durftest im Sommer in den Schwimmverein und an den Strand und hast Baseballtickets und die modernsten Computer bekommen. Und du durftest morgens nichts Süßes zum Frühstück essen und hast nur mittwochs Fast Food gekriegt, und außer Pommes waren frittierte Sachen tabu, genau wie Spielzeugpistolen, Fernsehen vor den Hausaufgaben und Videospiele, sofern sie keinen didaktischen Nutzen hatten. Aber nichts davon hat mich befähigt, dir das zu ersparen, was ich dir unbedingt ersparen wollte.«
»Was passiert ist, ist meine Schuld, nicht deine. Wenn es RePrise nicht gegeben hätte …«
»Wäre sie uralt geworden? Hätte sie garantiert noch sechzig Jahre gelebt? Wäre sie unter gar keinen Umständen an diesem Tag auf dem Markt gewesen? Hätte sie niemals ein trauriges Schicksal ereilt?«
»Nein, aber …«
»Lieben heißt verlieren, Sam. Das ist leider die simp le Wahrheit. Wenn man nicht sofort verliert, dann garantiert später, wenn man nicht viel zu jung verliert, dann, wenn man alt ist, wenn man nicht die eigene Frau oder Freundin oder Mutter verliert, dann verliert man seine Freunde. Diese Wahrheit kann ich dir genauso wenig ersparen, wie ich dir die Pubertät ersparen konnte. So ist nun mal die conditio humana . Sie wird verschärft durch die Liebe, aber auch einfach nur dadurch, dass man die eigenen vier Wände verlässt und in die Welt hinausgeht, dass man Computerprogramme erfindet, die anderen Menschen helfen. Du hast Angst vor der Zeit, Sam. Gegen Traurigkeit gibt es aber manchmal kein Mittel. Gegen Traurigkeit hilft manchmal nicht das Geringste.«
»Was soll ich dann verdammt noch mal tun?«
»Traurig sein.«
»Wie lange denn noch?«
»Für immer.«
»Warum läuft dann nicht jeder Mensch auf der Welt ständig mit hängendem Kopf herum?«
»Weil ein Eis im Sommer immer noch gut schmeckt. Und ein sonniger , warmer Tag immer noch wunderbar ist. Und lustige Filme einen zum
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