Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
zu zerstören. Manchmal bin ich schockiert, wenn mir wieder einfällt, dass wir nicht dieselbe Person sind.
Außerdem war ich neugierig. Warst du vielleicht in irgendeiner Internet-Community für Modellbaufreaks, von der ich nichts wusste? Hast du Flugzeug-Chats besucht, während ich geschlafen habe? Wie sich herausgestellt hat und wie du ja weißt, war das nicht der Fall. Aber einmal, vor vier Jahren, lange bevor wir uns begegnet sind, hat der Sohn einer Kollegin beim Bau eines Modells für ein Schulprojekt nicht mehr weitergewusst, und du dachtest, dass es am einfachsten wäre, ihm per Video-Chat zu helfen. Und ich denke: Das ist wieder mal typisch für dich, dass du so lieb und großzügig und selbstlos bist, diesem Jungen aus der Patsche zu helfen. Und ich denke auch: Dem Himmel sei Dank für diesen Jungen und sein Schulprojekt und seine Mutter, die genauso wenig Ahnung vom Modellbau hat wie ich. Ich denke: Dieser Junge geht inzwischen bestimmt längst auf die Highschool und entwickelt sich immer weiter, sein ganzes Leben liegt noch vor ihm. Und ich frage mich: Hast du mit mir heute, an unserem gestohlenen Nachmittag, wie mit einem Zehnjährigen geredet? Ich denke: Wir werden nie einen zehnjährigen Sohn zusammen haben. Und ich überlege: Was verbirgst du sonst noch vor mir? Über welche Themen, von deren Existenz ich nichts weiß, können wir sonst noch reden? Welche weiteren unerwarteten Schätze befinden sich in deiner Erinnerung, deiner wunderwunderbaren Erinnerung?
Was mir langsam dämmert, ist Folgendes: Am Ende lassen wir doch Stück für Stück los. Nicht etwa weil wir dazu bereit sind oder weil es uns besser geht. Nicht weil wir genug getrauert haben und uns damit abfinden und uns weiterentwickeln. Wir entwickeln uns nie weiter. Wir lassen nicht los, sondern verlieren den Halt und fallen hin, weil unsere Erinnerung nicht mehr genügt. Mein Gedächtnis ist unvollkommen, voller Lücken. Mehr Loch als Stoff, wie Lochstickerei. Es ist gleichzeitig durchtränkt von Kummer und verdorrt, weil das Blut nicht mehr fließt, eine logische Konsequenz meines gebrochenen Herzens. In hoffnungslosen Versuchen, sich selbst zu trösten, erfindet es Dinge hinzu, kittet Risse mit Fantasie. Es kneift die Augen zusammen und ballt die Hände zu Fäusten und wirft sich zu Boden, wo es in einem blinden, gegen die Realität gerichteten Tobsuchtsanfall um sich tritt. Währenddessen nimmt mein Gedächtnis immer mehr Banalitäten in sich auf. Ich weiß, was ich gestern zum Frühstück gegessen habe. Ich weiß, was ich Dash alles vom Supermarkt mitbringen soll. Ich denke daran, die Hunde zu füttern, bevor ich ins Bett gehe, obwohl ich noch viel zu beseelt bin von meinem Nachmittag mit dir, um selbst etwas zu essen. Alles, was mein Gehirn wahrnimmt, alles, was ich versehentlich von ihm an Denkleistung erwarte, drängt meine begrenzten Momente mit dir in dunklere, staubigere, weniger zugängliche Ecken ab oder verdrängt sie sogar ganz.
Das ist auch der Grund, warum ich mich so oft wie möglich entziehe, warum ich drinnen bleibe und zu schlafen versuche. Nicht etwa weil ich die Gesellschaft anderer Menschen nicht ertragen würde oder keine Lust hätte, in den Salon zu gehen und meine Arbeit zu erledigen und in dieser Welt zu leben, sondern weil jeder Sinneseindruck einen Sinneseindruck von dir verdrängt, den ich gespeichert habe. Ich wachse und häufe an und vergesse. Aber du, du bleibst und bewahrst und erinnerst dich. Dein Gedächtnis ist perfekt. Sie genügen beide nicht, weder dein Gedächtnis noch meins, aber deins ist ein geschlossenes Ganzes, das sich nicht verflüchtigen kann – vollkommen. Und das ist auch das Andenken, das ich von dir im Herzen bewahre.
Sam.
U nvollkommenes Gedächtnis
Genau wie Merediths Totenwache fühlte sich auch Joshs Totenwache irgendwie falsch an. Er war zu jung gestorben, unreif wie eine zu früh geerntete Frucht, aus den Fugen geratene Zeit. Dieser Irrtum, den er nun schon zum zweiten Mal erlebte, machte Sam fertig. Livvies Tod war immerhin so traurig gewesen, dass Meredith fast verzweifelt wäre, so traurig, dass sie RePrise aus dem Nichts heraus erschaffen hatten. Er hatte den Hinterbliebenen das Herz gebrochen, aber er hatte der natürlichen Ordnung entsprochen, war zur rechten Zeit erfolgt. Ihre Kinder und Enkel waren da gewesen, aber nur wenige Freunde, weil sie so viele von ihnen überlebt hatte. Bei Josh und Meredith war es umgekehrt. Joshs Kinder und Enkel konnten nicht kommen, waren
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