Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
sein Dating-Algorithmus. Nicht, um einen Partner für sie zu finden, sondern um ihr eine Stimme zu geben.
Anfangs funktionierte es überhaupt nicht. Der Algorithmus war auf Liebe eingestellt, auf Feuer, Romantik, Vorlieben, Abtörner, Gewohnheiten, Neigungen, Widersprüche, spontane Reaktionen. Nichts davon wurde hier gebraucht. Aber wie bei der Partnersuche galt auch hier, dass möglichst viele Informationen ein besseres und vollständigeres Bild von der betreffenden Person zeichnen. Das Programm brauchte keine künstliche Intelligenz, sondern Livvies natürliche Intelligenz. Der Algorithmus las also alte Video-Chats ein, zerlegte sie in Einzelteile und mischte sie neu, bis er eine Projektion erstellen konnte, die genauso aussah und klang wie Livvie, die ihre Betonung kopierte, ihre Emotionen, ihre Mimik und Ausdrucksweise, die Art, wie sie sich beim Sprechen die Haare am Hinterkopf aufschüttelte, die Art, wie sie mit ihrem Ehering spielte, die Art, wie sie an ihrem Hörgerät herumfummelte oder sich die Nägel lackierte. Der Algorithmus wusste, wie sie atmete, wann sie lachte, wie sie ihr rechtes Ohr zur Kamera drehte, wenn sie etwas nicht verstanden hatte, wie sie sich genau das Kamerafenster ansah, wenn es aufging, um sich einen ersten Eindruck von ihrer Enkelin zu verschaffen, wie sie bei Gesprächen am späten Nachmittag ununterbrochen blinzelte, weil dann die Sonne vom Meer reflektiert wurde und in ihre Wohnung schien.
Meredith hatte recht: Das Prinzip war dasselbe wie bei E-Mails. Das Programm merkte sich ihre Aussagen und Reaktionen, aber auch, wie sie dabei aussah und klang. Sam programmierte herum, sein Vater programmierte herum, und irgendwann war das Ergebnis so gut, dass es ihnen den Atem raubte. Aber Sam erzählte Meredith nichts davon, sondern sagte nur immer wieder, dass er zwar Fortschritte mache, es aber noch nicht so weit sei. Er sagte, dass es beiden schaden könne, wenn sie es vorzeitig ausprobierten – Meredith und dem Computerprogramm, das eher einem Kleinkind glich als einer alten Frau, weil es alles in sich aufsaugte und abspeicherte, ob man nun wollte oder nicht. Man fluchte besser nicht in seiner Anwesenheit, sonst sagte es das böse S-Wort vor den Schwiegereltern beim Sonntagsfrühstück.
Dann wachte Meredith eines Morgens mit Kopfschmerzen, Übelkeit und Fieber auf und meldete sich krank. Sam wollte einen Arzt rufen, aber sie behauptete, dass sie nur viel Schlaf und einen Tag auf dem Sofa mit schlechtem Fernsehprogramm brauchte. Gegen Mittag verließ er die Wohnung, um ihr eine Nudelsuppe mit Hühnchen von dem Vietnamesen zu holen, bei dem sie so gerne aß. Als er zurückkam, schlich er in die Wohnung, weil er sie nicht aufwecken wollte, falls sie schlief. Aber statt ihrer gleichmäßigen Atemzüge hörte er den Klingelton von Merediths Video-Chat. Er blieb auf dem Flur stehen, mit vor Anspannung oder vielleicht auch böser Vorahnung angehaltenem Atem, und wurde Zeuge, wie Livvie den Anruf entgegennahm und ein Fenster auf dem Computerbildschirm aufging. Meredith schnappte nach Luft, rieb sich die Augen und räusperte sich, bevor auf ihrem Gesicht das schönste Lächeln erschien, das Sam je gesehen hatte.
»Hallo Oma. Wie ist der Strand?«
»Wunderbar, meine Süße . Sonnig und heiß. Wie ist es zu Hause in Seattle?«
»Regnerisch und kalt.«
»So ein Mist. Geht es dir besser?«
»Ja … viel besser.«
»Das freut mich, S chatz. Mir hat dein Lächeln gefehlt. Die fröhliche, strahlende Meredith.«
»Die letzten Monate waren nicht leicht«, gestand Meredith. »Was gibt’s bei dir Neues?«
»Ach , du weißt schon. Alles beim Alten. Es wäre so schön, wenn du mich besuchen kommen würdest! «
»Ich wünschte, ich könnte … aber ich muss arbeiten.«
»Du arbeit est zu viel, meine Süße. Tja, dann müssen wir wohl bis nächsten Sommer warten.«
»Sieht ganz so aus.«
»Wie geht es Sam?«
»Gut. Er ist so toll, Oma.«
»Das freut mich für dich. Ich kann es kaum erwarten, ihn kennenzulernen. Wie geht’s deiner Mutter?«
»Auch gut. Sie vermisst dich.«
»Ich vermisse sie auch. Und dich natürlich. Wir sprechen uns bald wieder, ja? Ich muss jetzt los, wir wollen bei Marta Piña Coladas trinken. Richte Sam einen schönen Gruß von mir aus.«
»Mach ich. Hab dich lieb!«
»Ich dich auch. Sprechen wir uns dieses Wochenende?«
»Gerne.«
»Tschüs«, sagte Livvie.
»Tschüs«, kiekste Meredith, und Sam atmete endlich wieder aus. Sie fuhr erschrocken herum, aber keiner
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