Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
von ihnen wusste, was er sagen sollte. Meredith war blass und völlig überwältigt, aber sie strahlte auch und hatte fiebrige Augen und rote Backen.
»Das war absolut perfekt« , flüsterte sie.
»Stimmt.«
»Man würde es niemals merken , wenn man es nicht wüsste. «
»Ich weiß.«
»Es sah aus wie sie. Es hat sich angehört wie sie. Es hat gesagt, was sie sagen würde, reagiert, wie sie reagieren würde.«
»Hab ich gesehen.«
»Ja, aber du hast sie nicht gekannt. Glaub mir, es war … perfekt.«
Sam nickte. »Aber ist es wirklich gut oder nur beeindruckend?«
»Wie meinst du das?«
»Ich meine, es ist natürlich toll und alles, aber willst du es auch benutzen?«
»Und wie ich es benutzen will! Wieso denn nicht?«
»Findest du es nicht irgendwie unheimlich?«
»Nein, es ist absolut originalgetreu. Genau so, als würde ich mit ihr reden. Es ist viel zu sehr Livvie, um unheimlich zu sein. Kein Uncanny-Valley-Effekt, keine Distanz. Ich kann überhaupt keine Diskrepanz feststellen.«
»Vermisst du sie dadurch nicht noch mehr?«
»Nein, ich kriege sie ja zurück.«
» Nicht wirklich.«
»Doch, wirklich. Da s Programm bringt mir meine Großmutter zurück«, insistierte Meredith. Und fügte dann später, nach Suppe, Aspirin und Nasenspray hinzu: »Ich bin so erleichtert. Es ist, als wäre sie nicht wirklich tot. Wenn ich immer noch mit ihr reden kann … muss ich sie eigentlich gar nicht vermissen.«
T hanksgiving
Sam war beunruhigt. Meredith war überglücklich. Sam hatte Angst, dass das Programm den gesunden Trauerprozess störte. Aber Meredith war von einem gesunden Trauerprozess, den man hätte stören können, sowieso weit entfernt. Stattdessen hatte sie eine Art verbotene Online-Affäre, von der sie niemandem erzählen konnte. Sie konnte ihren Arbeitskollegen nicht erklären, warum sie plötzlich regelrecht strahlte, warum sie in Meetings lächelnd in die Ferne starrte und zum ersten Mal seit Wochen wieder ganz die Alte war. Alle gingen davon aus, dass Sam die Ursache war, und das war er auch. Allerdings hauptsächlich, weil er ihr Livvie zurückgegeben hatte, das war ihm durchaus bewusst. Er wusste immer genau, wann die beiden gechattet hatten, weil Merediths Augen dann vor Glück leuchteten. Früher hatte es durchaus Tage gegeben, an denen sie und ihre Großmutter nicht miteinander gesprochen hatten, entweder weil sie zu beschäftigt waren oder den Zeitunterschied vergaßen oder weil sie einfach nicht daran dachten und es nichts Neues zu erzählen gab. Wenn jetzt Tage ohne Video-Chat vergingen, lastete es schwer auf Meredith, dass Livvie tot war. An Tagen hingegen, an denen sie miteinander sprachen, strahlte sie vor Freude, aber auch vor Erleichterung: Livvie war doch nicht tot! Dennoch übte sich Meredith in Zurückhaltung. Früher hatten sie schließlich auch nicht jeden Tag gemailt oder online telefoniert, also taten sie es jetzt auch nicht – und konnten es auch gar nicht.
Eines Vormittags rief Livvie an, als Meredith gerade mit den Hunden joggen war. Sam zögerte zunächst. »Ach, egal«, dachte er dann und ging dran.
»Hallo, Livvie«, sagte er höflich.
Sie blinzelte ihn einen Augenblick zu lange an, während er wartete und grübelte und sich Sorgen machte. Was jetzt? Wenn das Programm wegen ihm abstürzte, gab ihm Meredith hundertprozentig den Laufpass. Dann verzog sich Livvies Gesicht zu einem strahlenden Lächeln.
»Du musst Sam sein!«
Der war er. Und er war sehr beeindruckt von sich und seinem Programm. »Ich freue mich, dich endlich kennenzulernen«, sagte er.
» Ebenso! Meredith hat mir schon so viel von dir erzählt. Schön, dass ich dich endlich mal persönlich vor mir habe.«
»Na ja, nicht ganz .«
»Dann schnapp dir deine F reundin und komm her, dann lernen wir uns wirklich von Angesicht zu Angesicht kennen «, sag te Livvie. »Ich habe Platz genug und würde mich wahnsinnig freuen, wenn ihr mich besuchen kämt.«
Sam zuckte mit den Schultern. »Sie sagt, sie muss arbeiten .«
»Das sagt sie immer«, antwortete Livvie lachend. Dann ging die Tür auf, und Meredith kam herein. »Hallo, Süße.« Livvie freute sich sichtlich, aber Meredith warf Sam einen panischen Blick zu und ließ sich auf den Stuhl fallen, den er ihr schnell freimachte.
»Ich habe gerade Bekanntschaft mit deiner Großmutter gemacht«, erklärte er fröhlich und stellte sich dann hinter Meredith, damit Livvie sie beide sehen konnte.
»Warum joggst du im Winter ohne Mütze auf dem Kopf, junge
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