Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
gestaffelten Tarife noch weiter nach unten.
Davon einmal abgesehen war diese Kunden-Generation wesentlich pflegeleichter. Viele kannten David, hatten sich mit ihm unterhalten und vertrauten seinem Rat. Sie waren viel besser über RePrise und die mit der Nutzung einhergehenden Regeln informiert, und verstanden sofort, warum sie ihrer Projektion nicht erzählen durften, dass sie tot war. Sie durchschauten das Konzept und seine Tücken, erkannten aber auch sofort die Chance, ihren Projektionen Neues beizubringen und sie dadurch noch wirklichkeitsnäher erscheinen zu lassen. Während Sam die verbesserte Software dafür verantwortlich machte, glaubte Meredith, es liege daran, dass es Kunden der zweiten Generation waren. Dash hingegen erkannte den wahren Grund: Diese Menschen hatten ihre Angehörigen nicht durch Autounfälle oder einen plötzlichen Herzinfarkt verloren. Sie hatten sich hinlänglich mit vielschichtigen Symptomen, komplexen Medikamentenzusammenstellungen und ständig wechselnden Prognosen auseinandergesetzt, waren es gewöhnt, Ärzten aufmerksam zuzuhören, klipp und klar zu sagen, was sie brauchten, zu recherchieren und zu kämpfen. Sie waren Experten auf Sachgebieten geworden, die sie nicht studiert hatten und die eigentlich weit über ihr Fassungsvermögen hinausgingen, und hatten viel Energie und Mühe in die Aufgabe gesteckt, einen geliebten Menschen so lange wie möglich am Leben zu erhalten. Jetzt nahmen sie auch RePrise mit derselben Hingabe in Angriff, es war ihr neues Projekt.
Eine dieser Kundinnen war Nadia Banks, die endlich wieder Männer kennenlernen wollte, nachdem sie jahrelang nichts anderes getan hatte, als ihre kranke Mutter zu pflegen. Allerdings hatte sie nach wie vor das Bedürfnis, für jede Verabredung deren Zustimmung einzuholen. Sam stellte daher eine Verknüpfung mit der Website ihrer Online-Partnervermittlung her, damit sie ihrer Mutter die Profile potenzieller Partner zeigen konnte und von ihr entweder ein Ja oder ein Nein erhielt. »Wahnsinn«, sagte Nadia nach der ersten Sitzung zu Sam. »Ihr gefallen genau wie im echten Leben die verklemmten Anwälte und viel zu alten Buchhalter. Woher weiß das Programm das?«
»Wahrscheinlich hat sie mit ihrer Meinung nicht unbedingt hinterm Berg gehalten«, erklärte Sam.
»Nein, da haben Sie recht. Manchmal hat sie mich wahnsinnig gemacht damit. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal froh über die unausstehlich große Klappe meiner Mutter sein würde.«
»Zieh nicht so über sie her! «, rief Muriel Campbell von der anderen Seite des Salons herüber. »Deine Mutter war ein herzensguter Mensch. Sie wollte immer nur das Beste für dich.« Dann drehte sie sich zu Meredith um und flüsterte erklärend: »Mrs. Banks und meine Marion lagen die letzten sechs Wochen auf demselben Klinikflur. Wir haben also viel Zeit miteinander verbracht. Nadia hat keinen Vater mehr und auch keine anderen Angehörigen, daher hat mich Mrs. Banks gebeten, ein bisschen auf sie aufzupassen. Leider lässt Nadia bei der Auswahl ihrer Männer bisweilen selbstzerstörerische Tendenzen erkennen.«
»Ich bin kein kleines Mädchen mehr«, protestierte Nadia. »Ich bin dreiundzwanzig.«
»Und was ist mit den selbstzerstörerischen Tendenzen?«, fragte Dash.
Sie zuckte mit den Schultern. »Gute Männer sind eben nicht so leicht zu finden. «
»Wem sagen Sie das ? «, seufzte Dash.
»Erwachsene Mädchen lästern aber nicht über ihre toten Mütter! «, rief Mrs. Campbell.
Emmy Vargas erschien mit ihrem sechzehn Monate alten Sohn Oliver, den sie in einem Tragegurt vor dem Bauch trug. Sie wollte mit ihrer verstorbenen Zwillingsschwester Eleanor kommunizieren, die jede Woche zusammen mit Mrs. Elliot zur Chemo gegangen war. Eleanor hatte gerade noch lange genug gelebt, um Oliver krabbeln zu sehen, ein echter Segen, wie Emmy fand. Ihre Schwester hatte am selben Tag von ihrer Krebserkrankung erfahren wie sie von ihrer Schwangerschaft. Emmy war außer sich gewesen, weil sie befürchtet hatte, ihre Schwester würde ihr Baby nie kennenlernen. Später war sie dann außer sich gewesen, weil sie – und damit auch ihr Baby – so viel Zeit in einem mit Keimen verseuchten und von kranken Menschen wimmelnden Krankenhaus verbringen musste, wo schlechte Energie und noch schlechtere Beleuchtung herrschten. Sie war außer sich darüber gewesen, wie schnell sich Eleanors Zustand verschlechtert hatte, und wenn sie ganz ehrlich zu sich war, was selten vorkam, war sie auch außer sich
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