Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
dass jeder will, dass er glücklich ist. Man sollte meinen, dass das etwas Gutes wäre, aber so ist es nicht. Seine Mutter sagt zu ihm: ›Hör zu, Junge, jeder muss irgendwann sterben. Ich verstehe nicht, warum du dich so aufregst.‹ Seine Freundin sagt: ›Es ist jetzt vier Monate her, mein Liebster. Das Leben geht weiter.‹ Sein Onkel sagt: ›Schon der Vater deines Vaters ist gestorben, und dessen Vater ist ebenfalls gestorben, ohne dass jemand ein großes Ding daraus gemacht hätte. Wo ist dein Problem? Sei ein Mann!‹«
»Unterstellst du mir etwa, dass ich kein Mann bin?«, fragte Sam.
»Hamlets Problem ist, dass er verdammt noch mal allen Grund hat, unglücklich zu sein – sein Vater ist gerade gestorben, seine Mutter ist eine kaltherzige Schlampe, seine ganze Welt befindet sich im Umbruch. Trotzdem verlangt sein Umfeld von ihm, dass er endlich wieder gute Laune haben und ein Freudent änzchen aufführen soll. Und da wundern sich vierhundert Jahre lang die Literaturkritiker, warum er so spinnt? Er spinnt, weil sein Leben ihn in den Wahnsinn treibt. Und traurig ist er, weil es nun mal traurig ist, wenn der eigene Vater stirbt.«
»Du vergleichst mich mit einem gemeingefährlichen, selbstmordgefährdeten Spinner?«
»So ist es«, antwortete Jamie. »Du hast dich mit einer Dienstleistung selbstständig gemacht, die sich an Trauernde richtet. Natürlich hast du da mit Menschen zu tun, die unglücklich, krank oder tot sind, die die Schnauze voll haben vom Leben. Und dass Meredith deprimiert ist und alles schiefgeht und euch sinnlos vorkommt, ist auch nicht weiter verwunderlich, genauso wenig wie die Tatsache, dass du ein beschissenes Wochenende hattest, Sam. Mich wundert nur, dass ihr nicht ständig beschissene Wochenenden habt.«
»Und wie löst Hamlet sein Problem?«
»Er wird sozusagen buddhistisch und fügt sich seinem Schicksal. Que será, será . Du weißt schon.«
»Ich glaube nicht, dass das bei mir funktioniert«, sagte Sam skeptisch.
»Kann ich mir bei dir au ch nicht vorstellen«, stimmte ihm Jamie zu. »Hamlets neue Einstellung hatte dann auch ihre Schattenseiten, wie sich herausgestellt hat.«
»Was kannst du mir sonst noch anbieten?«
»Vielleicht geht es dir wie Heisenberg in diesem Witz?«
»Inwiefern?«
»Du hast dich verirrt und weißt nicht mehr, wo du bist. «
»Genau so ist es.«
»Aber wenigstens weißt du, wie schnell du unterwegs bist«, sagte Jamie.
D avids Kunden
Um das Gefühl zu haben, noch die Entscheidungsgewalt und die Kontrolle über sein Leben zu besitzen, kaufte sich Sam Schmerzmittel, ein Potpourri aus bunten Plastikfläschchen. Meredith kaufte Modellflugzeuge, und Dash kaufte Käseaufbewahrungssysteme. Er stellte einen riesigen alten Kühlschrank auf, der fast das gesamte Arbeitszimmer einnahm, und legte kaum etwas hinein. »Käsehöhlen brauchen Luft«, erklärte er, als wüsste er, wovon er sprach. Außerdem bestückte er in ihrem Kellerabteil einen Schrank mit Dutzenden Plastikkisten, die er abwechselnd mit Käse und Schwämmen füllte. Wie ein Besessener kontrollierte er immer wieder, dass sich auch ja keine Feuchtigkeit gebildet hatte, als wären seine Käselaibe Neugeborene. Bald lagerte überall in der Wohnung Käse in verschiedenen Alterungsstadien.
Auch Sam spürte förmlich , wie er alterte. Im Laufe der folgenden Wochen trudelten nach und nach Davids Kunden ein. Sie waren anders als die Kunden, die durch Mundpropaganda von RePrise erfahren hatten, und sie waren auch anders als die Kunden, die RePrise aus den Nachrichten oder der Zeitung kannten. Da diese neuen Kunden im Krankenhaus auf die Flyer gestoßen waren oder sich in Davids Selbsthilfegruppe informiert hatten, waren ihre VAs meist noch nicht lange tot. Mit ihrem Untergewicht und ihren glasigen Augen sahen sie aus wie Trauma-Opfer, und genau das waren sie auch. Man musste nicht erst ein Verkaufsgespräch mit ihnen führen und sie mühsam überzeugen, dass RePrise wirklich funktionierte. Diese Menschen hatten schon so viel Ungeheuerliches erlebt, dass sie nichts mehr verwunderte. Außerdem hatten sie viel weniger Geld zur Verfügung als frühere Kunden, was teilweise daran lag, dass Dash seine Flüsterkampagne in der Highsociety durchgeführt hatte. Hauptsächlich war es darauf zurückzuführen, dass die neuen Kunden bereits durch Krankenhausrechnungen, Kosten für ambulante Krankenschwestern und den behindertengerechten Umbau ihrer Häuser geschröpft waren. Meredith staffelte die
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