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Der Allesforscher: Roman (German Edition)

Der Allesforscher: Roman (German Edition)

Titel: Der Allesforscher: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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bestehen schienen.
    Niemand schrie, obwohl sicher vielen danach zumute war. Doch an Bord befanden sich fast ausschließlich Geschäftsleute, im Grunde Krieger, die nur dann schrien, wenn sie zustachen, jedoch schluckten, wurden sie gestochen. Und das wurden sie hier ganz sicher.
    Ja, ein vielfaches Geschlucke und Gewürge und ein massives Zusammenbeißen der Zähne waren spürbar. Hände verkrallten sich in Lehnen, Augenpaare wurden geschlossen, weiße Hemden tränkten sich mit Schweiß. Die Flugbegleiter waren außer Sicht.
    Woran dachte ich? Etwa an meine Kölner Verlobte, die in meiner Erinnerung wie auf einem Magritte-Gemälde einen Apfel vor dem Gesicht hatte? Keineswegs. Sondern natürlich an Lana, deren feine Züge ich detailgetreu hätte zeichnen können, hätte ich zeichnen können. – Einmal noch mit ihr zusammensein! Einmal noch das feste Gewebe ihres Kostüms auf meiner Haut spüren! Einmal noch … Und nachher halt die Rückkehr ins europäische Schicksal.
    »Einmal noch …« war genau die Phrase, die dem Schnitter Tod zu den Ohren heraushing.
    Doch ich war vollkommen unwillig, in diesem Moment aus dem Ring genommen zu werden. Ohne wenigstens ein letztes Mal Lana zu treffen. Zudem hatte ich beschlossen, in jedem Fall das bürgerliche Drama einer Verlobungsauflösung durchziehen zu wollen. – Gott, wie ich mich darauf freute, Nein zu sagen, mich wortreich zu entschuldigen, bei Apfel-Lydia und bei Wallace & Gromit.
    Ein Dröhnen durch und durch. Erschütterung an Erschütterung.
    »Ich kann jetzt nicht sterben«, jammerte ich.
    »Wem sagen Sie das?« meinte mein Nachbar. »Hätte ich wenigstens Schulden, damit es sich auszahlt. Aber ich habe gerade an die zehn Millionen geerbt. Und dazu ein Haus voll mit Kunst. Ich mußte extra einen Antiquitätenhändler anstellen.«
    Die Art und Weise, wie dieser Mann sprach, spiegelte weniger seine Furcht als seinen Ärger wider. Er war genau der Typ, der, auf den Boden zurückgekehrt, augenblicklich seinen Anwalt anweisen würde, die Fluggesellschaft zu verklagen. Wegen einer Todesangst, die er gar nicht verspürt hatte.
    Nun, daran sollte ich vielleicht ebenfalls denken.
    Und dann fiel das Ganglicht aus, die Leselampen versagten, und selbst die Bildschirme, die auf der Rückseite der Sitze einen zumindest virtuellen Notausgang gebildet und dem Hagel zum Trotz Drei Engel für Charlie gezeigt hatten, erloschen. In meinem toten Bildschirm spiegelte sich nun die Schwärze des Raums sowie die blitzbedingte Aufhellung für Sekunden, wobei ich meinte … da war etwas: Zahlen mit Punkten dazwischen, digitale Ziffern, welche … mir kam vor, es sei ein Datum gewesen.
    Ich richtete mich nach vorn, ging nahe an den Bildschirm, kniff die Augen zusammen und wartete auf den nächsten Blitz, die nächste Weißung. Verrückterweise kam mir der Gedanke, bei diesem Datum, welches wie der Lippenabdruck eines Unsichtbaren auf dem Bildschirm aufgetaucht war, könnte es sich um den Zeitpunkt meines Todes handeln. Eine Offenbarung, die mir Auskunft gab, ob ich demnächst ein toter Mann sein würde oder einen weiteren Aufschub erhielt (denn wir sind ja des Todes in dem Moment, wo wir auf die Welt kommen, und leben allein von den gewährten Aufschüben).
    Und dann der Blitz, das grelle Weiß, der im Licht taghelle Bildschirm – und darin auch tatsächlich eine Anordnung digitaler Ziffern. Aber es war viel zu kurz und viel zu hell. Zudem spiegelverkehrt, als handle es sich um eine Reflexion. Die Jahreszahl 2004 so gut möglich wie 2061 . Mir präsentierte sich somit eine Palette zwischen »lange leben« und »sofort sterben«.
    Das Ganglicht sprang wieder an. Nicht aber Charlies drei Engel. Und im Schwarz nichts zu erkennen, was ein Datum gewesen wäre.
    Noch immer trommelten Hagelkörner – die Straußeneiervariante – auf die Hülle unseres Faradayschen Käfigs, während ich stark vornübergebeugt saß und mit meiner Nasenspitze beinahe den Bildschirm berührte.
    »Was tun Sie da?« fragte mein Sitznachbar durch den Lärm hindurch.
    »Ich wollte nur schauen, ob meine Frisur okay ist.«
    »Sehr witzig«, kommentierte er und drückte seinen geschlossenen silbernen Laptop flach gegen den eigenen Bauch. Es sah aus, als hätte er soeben den wesentlichsten Teil einer Ritterrüstung angelegt. Manche Leute, auch kluge Leute, brachten lieber ihren Bauch als ihren Kopf in Sicherheit. Die Frauen ihren Busen, die Männer ihre Bäuche. Und einige ihre Frisur. Ein solcher zu sein gab ich

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