Der Allesforscher: Roman (German Edition)
es entsprechend seiner Augenform mit einer exotischen Sprache zu tun zu haben. Nach und nach aber begriffen die Leute, was es damit auf sich hatte. Und begriffen auch die Unfähigkeit Simons, eine andere Sprache als jene zu erlernen, die er schon beherrschte und die allein ihm gehörte.
Richtig, der Mensch unterscheidet sich von den Tieren nicht nur durch jene Kommunikationsform, die es ihm ermöglicht, in Talkshows aufzutreten, sondern nicht minder durch seinen Umgang mit denen, die behindert sind. Er, der zeitgenössische Mensch, läßt seine Gehandicapten und Eingeschränkten nicht einfach in der Steppe zurück, läßt sie weder erfrieren noch verhungern, er nimmt sie auf die Schultern, schafft Geräte für ihre Fortbewegung, hängt sie an Schläuche, füttert sie, erhebt einige von ihnen sogar in den Stand der Führungseliten … Eigentlich kaum zu glauben, daß die Welt trotzdem immer schneller wird.
Und dennoch, die Behinderung bleibt verdächtig. Und viel verdächtiger als im Falle Simons ging es gar nicht mehr.
Gleich, was ich auch unternahm, und gleich, was die anderen unternahmen, Simon verharrte in seinem höchstpersönlichen Sprachschatz. Wobei er weder stur noch aufsässig wirkte. Was sein Verhalten aber erst recht als behindert erscheinen ließ. Behindert im Sinne einer niemals gewachsenen und auch in Zukunft nicht mehr wachsenden, also nachwachsenden Extremität. Er schien weder traumatisiert noch ein radikaler Rebell zu sein, sondern schlichtweg eingeschränkt.
Mein krankes, fremdes, anderes Kind!
Die Gutmeinenden erklärten mir dann immer: »Ihr Kind ist besonders.«
Oft lag mir auf der Zunge, so was zu sagen wie: »Hitler war auch besonders.« Aber klar, das tut man nicht, wie man ebensowenig die Hand dessen wegschlägt, der einem zu helfen versucht.
Zugleich muß gesagt sein, daß ein solches Kind auch eine enorme Freiheit bedeutet. Denn mit einemmal steht man außerhalb der Anforderungen, die uns allen einen erheblichen Streß bescheren. Vor allem, was die Bildung betrifft und ihren militärischen Arm, die Schule.
Obgleich ich selbst ein Schüler gewesen war, der gute und beste Noten abgeliefert hatte, obgleich versiert im Klassensprechertheater (der Trick, innerhalb der Diktatur demokratische Formen zu kultivieren, wie man an einer bestimmten, unwichtigen Stelle des Gartens Unkraut wachsen läßt), also ganz sicher kein Schulversager, im Gegenteil, erinnerte ich mich ungern an diese Einrichtung. Kein Ort in meinem Leben hatte mir derart den Eindruck verschafft, das Leben könnte eine Art von Vorhölle sein und der Mensch also durchaus erleichtert, nach seinem Tode festzustellen, das Schlimmste bereits hinter sich zu haben. Es braucht überhaupt nicht zu wundern, daß ausgerechnet an diesem Ort so viele Amokläufe geschehen.
Nun gut, Simon war siebeneinhalb, und er war in keiner Weise ansteckend. Ein Alien zwar, aber kein Außerirdischer. Auch nicht an ein Bett oder sonstwas gefesselt. Er mußte somit eine Schule besuchen, doch war in seinem Fall der »militärische Anteil« ein höchst eingeschränkter. Simon war für den Krieg und für die Vorhölle einfach nicht geeignet.
Dennoch, die Schule stand ihm zu. Etwas, was der Gesetzgeber als »Teilhabe auf unteilbares Recht« definiert. Es besteht eben auch ein Recht auf jene Dinge, die man gar nicht einfordert. Daneben war nicht ganz unwichtig, daß ich weder Millionär noch Privatpädagoge war und weiterhin dem Beruf des Bademeisters nachging. Simons ganztägige Unterbringung in einer Schule für geistig Behinderte stellte eine Notwendigkeit dar.
Wie anders hätte es funktionieren sollen? Da war nirgends eine Wolke, auf die ich mich zusammen mit ihm hätte setzen können, um auf einen göttlichen Übersetzer zu warten.
Nein, die Schule war in diesem Fall ein Glück. Und mein eigenes Glück war, daß meine Leistung als Vater nicht daran gemessen wurde, wie rasch ich Simon die deutsche Sprache beibrachte, die beizubringen auch seine sonderpädagogischen Betreuerinnen nicht in der Lage waren. Diese seine »Unfähigkeit« erwies sich bald als fundamental. Diesbezüglich war er unangreifbar. Man könnte sagen: unknackbar. Eine Bergianerin drückte es so aus: »Ein Tresor, aber ein lieber Tresor.«
Bei einem Kind ohne Beine verlangt niemand, daß es sich irgendwann aufrichtet und auf nicht vorhandenen Gliedmaßen herumläuft. Bei Simon war es ähnlich. Allerdings gibt es für die Beinlosen Prothesen. Und an der Gestaltung einer Prothese
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