Der Allesforscher: Roman (German Edition)
zu dieser Konsulatsangestellten mit silbernem Sternpiercing auf dem rechten Nasenflügel und der gestörten Pigmentierung im linken Auge zu sprechen, wäre vermessen gewesen. Doch als sie sich zu mir hinstreckte, sich mit ihrer Hand an meiner Schulter sachte festhielt und mir ihre schwermütigen Lippen gegen die Wange drückte – genau jene Dauer wählend, die nichts verspricht, aber auch nichts ausschließt –, da meinte ich einen Schauer zu empfangen, so einen winzig kleinen Meteoritenschauer.
Ich weiß schon, selbst diese kleinen Meteoriten können immensen Schaden anrichten. Aber wer wollte auch behaupten, Liebe sei frei von Schaden?
Zwei Tage später erhielt ich den Bescheid, Simon mit nach Stuttgart nehmen zu können, um mit der Probezeit zu beginnen, wobei mich eine Mitarbeiterin des dortigen Jugendamts unterstützen würde. Unterstützen und kontrollieren. Was mich nicht störte. Ich ging davon aus, daß nicht alle Jugendämtlerinnen so waren wie die Matadorfrau aus München. Zudem war Kontrolle besser als das Gefühl, allein gelassen zu werden. Im Cockpit eines Fliegers wäre es mir auch recht gewesen, wenn mir jemand kenntnisreich auf die Finger geschaut hätte.
Wobei die Frage eben nicht nur darin bestand, ob es mir gelingen würde, einen Siebenjährigen, der die letzten Jahre im taiwanischen Zentralgebirge zugebracht hatte, davon abzuhalten, bei Rot über die Kreuzung zu laufen, sondern vor allem, ob mir ein Zustand gelingen würde, den die Behörde als »echtes Eltern-Kind-Verhältnis« definieren konnte. Und zwar mit einem Kind, das ja nicht nur ich nicht verstand, sondern auch sonst niemand.
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Die Menschen sind Tiere.
Das ist hier aber nicht gemeint als Hinweis auf die oft besungene Bestialität des Homo sapiens, die ja nicht selten über das Tierische hinausweist, sehr viel verspielter anmutet, sehr viel weniger zweckgebunden ist: ein kunstvoll rabiates Verspieltsein. Der Begriff Kampfkunst trifft es ziemlich gut. Das gilt selbst noch für Tobsuchtsanfälle.
Aber ich meine etwas anderes. Ich meine unsere Abhängigkeit davon, was wir als normal empfinden, als naturgegeben. Wie sehr uns die Abweichung schreckt oder irritiert oder wütend macht und dabei unseren Instinkt beleidigt. Sobald die Norm durchbrochen wird, sind wir ganz Tier.
Mir war das früher nie so klar gewesen. Sehr wohl aber von dem Moment an, da ich für alle sichtbar mit diesem einen Kind zusammen war, es an meiner Hand führte, in behütender Weise den Jungen an der Schulter faßte, ihn zur Begrüßung in die Arme nahm, tröstete, sorgsam war, mitunter streng, genervt, laut, dann wieder helfend. – Bei alldem war offenkundig, daß Simon nicht zu mir paßte. Simon mit seinem asiatischen Gesichtsbild, während ich selbst durch und durch ein »weißer Mann« war. Was nun für alle, die uns wahrnahmen, ohne uns zu kennen – und wahrgenommen wurden wir weit mehr als andere –, einige Möglichkeiten eröffnete. Eine Adoption war so denkbar wie der Umstand, daß ich hier in beruflicher oder ehrenamtlicher Weise ein Kind fremder Eltern betreute. Vor allem bot sich natürlich an, daß es sich bei meiner Frau, der Mutter dieses Jungen, um eine Chinesin handelte. Das mochte heutzutage nicht mehr als »Perversion« oder »Rassenschande« gelten, empfunden wurde es aber schon so. Der Blick der Menschen signalisierte ihre Verunsicherung, ihren Widerwillen. Alles, was außerhalb der Ordnung steht, tut dies. Manche kochen daraus ihr ideologisches Süppchen, die Rassisten wie auch jene, die den Tabubruch überhöhen. Sosehr die Vermischung der Rassen ein genauso unumstößliches Faktum darstellt wie die Mobilität des neuzeitlichen Menschen, gilt dies gleichermaßen für das Unbehagen darüber. Jeder Blick, der mich und Simon traf, bewies mir das. Auch der freundliche Blick. Ja, der freundliche Blick ganz besonders, der Blick der liberalen Geister, die so was »ganz toll« finden, ein ungleiches Menschenpaar als Veredelung, bloß daß diese Leute im eigenen Falle dann doch lieber herkömmliche Beziehungen pflegen und herkömmliche Musterfamilien bilden.
Der zweite Punkt ergab sich natürlich aus Simons »Behinderung«. Welche nicht sofort erkennbar war. Er bewegte sich normal, gestikulierte in der gewohnten Form, sein Lachen war nicht breiter oder schriller als bei Gleichaltrigen, seine Verstimmungen nicht dunkler oder zerstörerischer. Und wenn er einmal redete, dann führte das Unverständliche seiner Worte zunächst zur Annahme,
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