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Der Allesforscher: Roman (German Edition)

Der Allesforscher: Roman (German Edition)

Titel: Der Allesforscher: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Jemand, dessen gesenkter oder aufgerichteter Daumen oberstes Gesetz war, jemand, den ich nicht sehen konnte. Dann blickte sie wieder zu mir her und sagte: »Kerstin.«
    Hätte sie jetzt zum Beispiel »Barbara« oder »Sandra« gesagt, ich glaube, ich hätte die Begegnung mit ihr einfach als ein markantes Erlebnis abgebucht, damit aber auch abgeschlossen. Umgekehrt war es natürlich nicht so, daß ich nur, weil sie diesen schönen Namen trug, augenblicklich beschlossen hatte, den Antrag einer symbolisch gemeinten Umarmung in die Realität umzusetzen. Aber immerhin machte ich einen Vorschlag. Ich sagte: »Es wäre schön, wenn wir in Kontakt blieben.«
    Sie betrachtete mich. Es war ein Grübeln in ihrem Gesicht. Zeit genug, um mir dieses Gesicht genau einzuprägen. Was nämlich meistens versäumt wird. Wir sind stundenlang mit Menschen zusammen, auch mit noch so faszinierenden, selbst mit monströsen, und haben nachher trotzdem kaum eine Ahnung, wie der andere ausgesehen hat. – Produzieren wir darum so viele Fotos?
    Aber Kerstin Heinsberg zu fragen, ob ich sie fotografieren dürfe, hätte alles zunichte gemacht. Sosehr Fotos der Erinnerung dienen, zerstören sie die Gegenwart. Sie erinnern uns sodann an ein Ereignis, das gar nicht eintrat, weil wir da gerade mit dem Fotografieren beschäftigt waren. Kein Wunder, daß manche Kulturen sich so sehr dagegen sträuben.
    Nein, ich wollte mir ihr Gesicht einprägen: die schmale Form, den vornehm blassen Teint, die ungleichen Augen – das eine braun, das andere sehr viel heller, zudem blau. Ein bläulicher Kranz, wie beim Cover von diesem Roman von Frank Schätzing, aber eine Spur lichter, auch wirkte es müder als das andere, das Lid enger. Zudem schien das Schätzing-Auge, ihr linkes, eine kleinere Pupille zu haben, kleiner als die des gegenüberliegenden Auges und auch kleiner als auf dem bekannten Romanumschlag.
    Ein ungleiches Augenpaar und doch harmonisch!
    Die längliche Nase wiederum unterstrich die einheitlich schlanke Gesichtsform. In der flachen Mulde ihres rechten Nasenflügels ruhte ein metallenes Sternchen mit sechs Zacken. Es wirkte wie ein winziges, versilbertes Weihnachtsgebäck. Ihre Lippen hingegen hatten etwas Schwermütiges an sich, ohne aber gequält herunterzuhängen. Es handelte sich um eine hübsche Schwermut, wie ein Romantiker sie gemalt hätte. Jetzt, während sie nachdachte, meinte ich einen Anflug von Falten auf ihrer Stirn zu sehen, nur die Schatten, gerade so, als wären es meine eigenen Falten, deren leichter »Wurf« sich dort, auf fremder Stirn, abzeichnete. Seitlich davon zogen sich Strähnen von rotbraunem dünnen Haar nach hinten, wo sie zu einem kurzen Zopf gebündelt waren. Es war kein schönes Haar, aber schönes Haar hätte auch gestört. Entweder schönes Haar oder ein schönes Gesicht! Beides zusammen pflegte sich auszustechen, das hatte ich schon oft erlebt und bedauert. Bei meiner Verlobten war das so gewesen. Frau Dr. Senft hingegen hatte ähnlich dünnes Haar gehabt, blond, gelbblond, man hätte auch krank blond dazu sagen können, Haar, das immer ein wenig fettig gewirkt hatte. So auch bei Kerstin Heinsberg. Aber es war eben ihr Gesicht, welches ich mir einprägte, nicht ihr Haar, nicht ihre Frisur.
    »Gut«, sagte sie, »ich schreibe Ihnen meine private Nummer auf. Dann können Sie mich anrufen, wenn Sie mir erzählen wollen, wie es Ihnen als Vater so geht.«
    »Ein wenig Angst habe ich schon«, gestand ich.
    »Wäre ja noch schöner, hätten Sie keine. Männer ohne Angst gehören ins Gefrierfach, damit sie keinen Schaden in der Welt anrichten können.«
    »Interessante Formulierung«, sagte ich und dachte mir, daß ich viele Jahre ein solcher angstfreier Mann gewesen war. Und es war ja auch gar nicht der Flugzeugabsturz gewesen, der mir die Fähigkeit des Angsthabens beschert hatte, sondern meine Liebe zu Lana. Wer wirklich liebt, fürchtet natürlich um diese Liebe. Das ist etwas anderes, als im Aktiengeschäft Geld zu verlieren. Angst um die Liebe und Angst um die Kinder, das ist fundamental. Im Vergleich dazu besitzt selbst die Angst um den Job – die gerne geschürt wird gleich der Angst vor Bakterien – bloß die Kraft eines Schulterzuckens.
    Stimmt, da gibt es noch die Angst vor dem Tod. Aber wer seine Liebe oder sein Kind verloren hat, wie könnte der noch Angst vor dem Tod haben?
    Bei mir war es freilich so, kein Kind verloren, sondern soeben eines gewonnen zu haben. Und vielleicht sogar … nein, von Liebe

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