Der Allesforscher: Roman (German Edition)
sei.
»Finden Sie denn, daß er undeutlich redet?« fragte der Übersetzer.
Ich dachte mir: »Zeig’s ihr.«
Der Übersetzer gab auch gleich selbst die Antwort: »Der Junge drückt sich vollkommen präzise aus, nur daß es keine Sprache ist, die ich kenne. Und ich kenne einige.«
»Aber nicht alle«, meinte die Frau vom Jugendamt.
Der alte Mann blieb ganz ruhig und sagte: »Richtig, alle kenne ich nicht. Aber wenn ich eine Vermutung aufstellen darf, würde ich sagen, Sie werden niemanden finden, der die Sprache dieses Jungen beherrscht.«
»Wie meinen Sie das?« fragte ich ihn. »Redet Simon in einer Geheimsprache?«
»Ja, in seiner eigenen.«
»Das ist eine gewagte Annahme«, meinte die Jugendämtlerin, die ganz offensichtlich diesen Mann nicht ausgewählt hatte. Das war Frau Heinsberg gewesen.
Doch Heinsbergs Wahl sollte sich als genauso richtig erweisen wie eben auch die These des Übersetzers. Weitere Spezialisten konnten nur bestätigen, daß Simon sich in einer unbekannten, höchstwahrscheinlich von ihm selbst entwickelten und nur ihm selbst verständlichen Sprache ausdrückte, vorausgesetzt, das, was er da von sich gab, besaß überhaupt konkrete Bedeutungen. Ein nachvollziehbarer Bezug zu einem der bekannten Sprachstämme fehlte gänzlich. Diese Sprache war ohne Stamm. Somit auch ohne Wurzeln. Pures Blätterwerk. Zugleich wirkte sie recht komplex, kein Gestammel oder Gebrabbel, nicht die Babysprache eines Zurückgebliebenen.
Das war die eine Erkenntnis. Die andere, sehr viel problematischere war die, daß Simon offensichtlich nur diese eine höchstpersönliche Lautsprache beherrschte. Entweder, weil er eine andere nie erlernt hatte oder eine Blockade es ihm unmöglich machte, diese anzuwenden. Seine Vorgeschichte blieb dabei weiterhin ziemlich im unklaren. Denn offensichtlich hatte seine Pflegemutter, jene Krankenschwester, die mit Frau Dr. Senft zusammengearbeitet hatte, sich bald nach deren Tod mit dem einjährigen Simon aufs Land zurückgezogen, beziehungsweise in die Berge, in ein Dorf im Süden des Zentralgebirges.
Der Übersetzer, mit dem ich mich noch einmal traf, diesmal allein, sagte zu mir: »Mag sein, daß sich der Junge in dieser Sprache, die er spricht, versteckt und gar nicht verstanden werden will. Daß seine Sprache ein Panzer ist, wie die Frau vom Jugendamt behauptet. Aber so Leute vom Jugendamt, die sehen überall sofort ein Trauma. Ich glaube hingegen, es ist etwas anderes. Bemühen Sie sich, ihn zu verstehen, und bekommen Sie heraus, was dahintersteckt.«
Nun, das sagte sich so. Dabei wäre es schwer genug gewesen, sich Chinesisch oder Taiwanisch oder irgend so ein Minderheitenkauderwelsch anzueignen. Und jetzt sollte ich auch noch eine gar nicht existente Sprache erlernen. Dabei reichten mir Englisch und Französisch wirklich. Erst recht als der Bademeister, der ich war. Kein Linguist und kein Sprachgenie.
»Es ist klar«, erklärte Heinsberg, »daß Sie unter diesen Voraussetzungen Ihren Adoptionsantrag zurückziehen können. Damit haben wir nicht gerechnet.«
»Sie haben mit einigem nicht gerechnet, oder?«
»Stimmt«, sagte sie.
Sie hatte ihren Kopf gesenkt. Ich kam mir richtig schlecht vor. Denn schließlich war diese Frau doch bei allem der »gute Engel« gewesen. Niemand, dessen Kopf ich so weit unten sehen wollte. Dennoch sagte ich: »Schon wieder.«
»Was schon wieder?« fragte sie und richtete sich auf.
»Sie machen mir immer ein schlechtes Gewissen. Das war von Beginn an so. Das ist Ihre ganze Strategie.«
»Da irren Sie sich«, erklärte sie, in diesem Moment ihren Kopf so ungemein gerade haltend, die Augen, den Mund, alles so fest und unverrückbar aufrecht, als hätte sie nie in ihrem Leben jemals zu Boden geschaut.
Na, wie auch immer, ich sagte: »Ich will den Jungen trotzdem adoptieren. Daß die Sache mit der Sprache nicht ganz einfach werden wird, war sowieso abzusehen.«
»Ich könnte Sie umarmen«, rief sie.
Schon klar, das war symbolisch gemeint. Trotzdem meinte ich: »Sie kriegen mich immer dorthin, wo Sie mich hinhaben wollen.«
»Vielleicht kriege ich Sie nur dorthin, wo Sie selbst ohnedies hinmöchten.«
Meine Güte, dachte ich, ist das hier die Lebensberatung? Sodann überlegte ich, wie alt die Heinsberg wohl sein mochte. Keine fünfundzwanzig. Ich fragte sie nach ihrem Namen, ihrem Vornamen.
»Wieso?«
»Na, gerade wollten Sie mich noch umarmen.«
Sie schaute zur Seite, als stünde dort jemand, bei dem sie um Erlaubnis bitten mußte.
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