Der Allesforscher: Roman (German Edition)
Mächtigen änderte nichts daran, daß weiterhin unliebsame Menschen aus dem Weg geräumt wurden, auf die eine oder andere Weise. Menschen verschwanden, und was nützte es schon, wenn sie auf Facebook weiterlebten oder sogar einen Wikipediaeintrag gleich einem Grabstein besaßen.
Die alte Französin – nicht gerade die typische Weltverbesserin, aber ziemlich realistisch – hatte Chen einen Floh ins Ohr gesetzt. Es war kein Riesenfloh, aber seine Anwesenheit deutlich spürbar.
Übrigens war Auden Chen in der Tat die einzige Person in seinem Unternehmen, welche die genaue Formel von G 7 kannte. Wobei er die Rezeptur, so kompliziert sie war, tagtäglich memorierte. Ein kleines Gebet, das ihm guttat. Die einzige schriftliche Aufzeichnung der Zusammensetzung – wie auch aller anderen Rezepte des KAI-Programms – hatte er an den Seitenrand einer Erstausgabe von W.H. Audens The Age of Anxiety notiert. Es versteht sich, daß er dieses Büchlein stets bei sich trug und dafür in allen seinen Sakkos Extrataschen hatte einnähen lassen, etwas, was wiederum nur seine beiden engsten Mitarbeiter wußten.
Einige Tage später landete er erneut in Australien, diesmal in Perth. Nach dieser letzten Station seiner Reise wollte er nach Taiwan zurückkehren und Lana aufsuchen, um ein entscheidendes Gespräch zu führen. Er wollte, so gut es ging, einen reinen Tisch schaffen.
Zum Abendessen traf er sich mit einer Gruppe von lokalen Geschäftsleuten, die sich bemühten, eine KAI-Vertretung in Perth zu etablieren. Die Art und Weise, wie diese Leute über G 7 sprachen, zeigte, wie sehr derzeit ein bloßes Gerücht bestand, aber eben auch der Wille, diesem Gerücht – wie die kleine Französin es ausgedrückt hatte – eine feste Form zu verleihen. Nicht etwa das Geheimnis geheimnislos zu machen, sondern einen Mythos in die Welt zu setzen. Vielleicht ähnlich dem, den man von Bachblüten kannte. Medizin vom lieben Gott.
Und welche Medizin könnte göttlicher sein als die, die neues Leben schuf?
Doch Auden fühlte sich erschöpft wie selten noch. Die ganzen letzten Tage schon. Man kann vielleicht sagen, zu dem Floh in seinem Ohr war ein Gewicht in seinem Kopf hinzugekommen.
Gegen elf Uhr bat er, sich zurückziehen zu dürfen. Er werde sich das Angebot der Perth-Leute genau überlegen. Dann fuhr er hoch in sein Hotelzimmer, wo er noch ein kleines Glas Bourbon trank, sich bis auf die Unterhose auszog und aufs Bett warf. Sekunden später war er eingeschlafen.
Er träumte. In diesem Traum war eine riesige Menschenmenge. Und in dieser Menge jemand, der ein Schild hochhielt. Darauf stand ein Wort. Allerdings schwer zu lesen. Was ja eigentlich ein Witz war, unleserliche Plakate schreiben. Wie in diesem Woody-Allen-Film, wo sich alle schwertun, die schriftliche Forderung des Bankräubers zu entziffern.
Auden drängte sich durch die Massen. Endlich war er nahe genug, das eine Wort zu erkennen. Aufwachen! stand da.
Es war wohl die heftige Anstrengung, nämlich die Anstrengung beim Lesen, die ihn tatsächlich aus dem Traum trieb. Er öffnete seine Augen.
Er lag in völliger Dunkelheit. Spürte aber sofort, nicht allein zu sein. Es war eine Bewegung im Raum, eine vorsichtige, eine Katzenbewegung oder, besser gesagt, eine Großkatzenbewegung, die aber auch etwas Schwerfälliges hatte. Ein alter Tiger oder alter Löwe.
Auden vernahm das Geräusch, das sich daraus ergab, daß jemand den Kleiderschrank geöffnet hatte und sich an den Anzügen zu schaffen machte. Mit leisen Pfoten, keine Frage. Aber in tiefer Nacht war auch das Leise ein Lautes.
Auden überlegte, daß es das Sicherste wäre, sich schlafend zu stellen und den Raub vorübergehen zu lassen. Wobei sich natürlich die Frage stellte, worauf der Einbrecher es abgesehen hatte. Geld? Schmuck? Oder geschah jetzt genau das, wovor die alte Französin ihn gewarnt hatte? War er, Auden, verraten worden? Und wurde gerade versucht, an die Rezeptformel zu gelangen, die er in einem Buch versteckt hatte, das Das Zeitalter der Angst hieß?
Wenn er nun das Licht anmachte und den Einbrecher zur Rede stellte …
Meine Güte, konnte man denn Einbrecher zur Rede stellen? Waren Einbrecher Kinder, die man ertappte, wie sie gerade ihre Finger in die Schokocreme tauchten? Aber beim nächsten Mal …
Immerhin befand sich Auden Chen in einem ziemlich guten Zustand. Körperlich gesehen. Er konnte Judo, und er konnte boxen. Wobei allerdings die Projektile, die aus Waffen flogen, völlig blind waren
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