Der Altman-Code
die Maschine Punkt 13 Uhr 22 auf dem Pudong International Airport landete, war er mit seinen Überlegungen noch zu keinem Ergebnis gekommen, außer dass es wahrscheinlich wichtiger war, keine chemischen Waffen in die Hände eines feindlichen Staates fallen zu lassen, als das Scheitern des Menschenrechtsabkommens zu verhindern.
Umringt von lächelnden Kollegen, begleitete Dr. Liang Tianning Dr. Jon Smith aus dem Flugzeug. Wenn auch nach westlichen Maßstäben nicht besonders groß, war der Terminal mit seinen üppigen Zierpflanzen und den hohen blauen Decken dennoch ultramodern. Vor den Abfertigungsschaltern drängten sich Männer in Business-Anzügen, Chinesen wie Europäer, Sinnbild für Shanghais Ambitionen, das New York Asiens zu werden. Einige wenige sahen Smith und seine Begleiter an, aber die Blicke offenbarten nur gelangweilte Neugier, sonst nichts.
Vor dem Flughafengebäude wartete inmitten gieriger Taxis eine schwarze Limousine. Kaum hatten die Ankömmlinge auf dem Rücksitz Platz genommen, fuhr der Chauffeur los. Er schaffte es, drei Taxis und zwei um ihr Leben rennenden Fußgängern auszuweichen. Um sich zu vergewissern, dass ihnen nichts passiert war, drehte sich Smith um. Sonst schien niemand auch nur die geringste Notiz davon zu nehmen, was einiges über das lokale Verkehrsverhalten aussagte. Smith wurde bei dieser Gelegenheit auf einen kleinen, dunkelblauen Jetta-VW aufmerksam, der unter den Taxis geparkt hatte, aber inzwischen direkt hinter der Limousine herfuhr.
Erwartete ihn sonst noch jemand – jemand, der nichts mit Molekularbiologie zu tun hatte und nicht sicher war, ob er tat sächlich der war, für den sich Dr. Liang interessierte? Der Fahrer des Jetta war vielleicht ein normaler Shanghaier, der unerlaubterweise auf dem Taxistandplatz statt im Parkhaus geparkt hatte, um einen heimkehrenden Freund oder Angehörigen abzuholen. Trotzdem fand es Smith etwas seltsam, dass er im gleichen Moment wie sie vom Flughafen losgefahren war.
Aber er erwähnte Dr. Liang gegenüber nichts davon.
Während die Wissenschaftler über virale Krankheitserreger diskutierten, fuhr die Limousine auf eine Stadtautobahn und durchquerte in westlicher Richtung das sumpfige Delta, das sich auf den ganzen dreißig Kilometern Fahrt kaum über Meereshöhe erhob. Shanghais gezackte Skyline kam in Sicht – eine neue Stadt, fast gänzlich eine Errungenschaft der letzten zehn Jahre. Zuerst erreichten sie das rasch wachsende Wirtschaftsviertel Pudong mit der Nadelspitze des Oriental Pearl Tower und dem gedrungeneren, aber trotzdem stolze achtundachtzig Stockwerke hohen Jin Mao Building. Aufwändige Architektur mit jedem nur erdenklichen Luxus-und High-tech-Beiwerk. Noch vor zwölf Jahren war hier flaches Marschland gewesen, das die riesige Metropole mit Gemüse versorgt hatte.
Das Gespräch in der Limousine drehte sich jetzt um den Ablauf von Smiths Besuch. Sie hatten Pudong hinter sich gelassen, den Huangpu unterquert und Puxi und den Bund erreicht, jenen Teil der City, der bis 1990 das Herz des alten Shanghai gewesen war. Inzwischen ragte eine Phalanx von blitzenden Wolkenkratzern über den klassizistischen Geschäftsgebäuden aus der Kolonialzeit der Stadt empor.
Auf dem Platz des Volkes konnte sich Smith aus nächster Nähe einen Eindruck von den Autos, Fahrrädern und Passanten verschaffen, die die Straßen verstopften – ein Meer aus ständig in Bewegung befindlichem Leben. Er nahm sich ein paar Sekunden Zeit, um alles auf sich einwirken zu lassen: Die umfangreichen Neubauten, die Demonstration ungeheuren Reichtums, die auf engstem Raum zusammengedrängten Menschen. Shanghai war Chinas einwohnerstärkste Stadt, größer sogar als Hongkong oder Beijing. Aber Shanghai wollte mehr. Es wollte eine Sonderstellung auf der Bühne der Weltwirtschaft.
Zwar erwies er der Vergangenheit mit gebeugtem Kopf seinen Respekt, aber sein Interesse galt der Zukunft.
Als die Limousine nach rechts in Richtung Fluss bog, setzte Dr. Liang fast händeringend an: »Wollen Sie wirklich kein Zimmer im Grand Hyatt im Jin Mao Tower, Dr. Smith? Es ist ein modernes Hotel, sehr luxuriös. Die Restaurants und der Komfort sind unübertroffen. Glauben Sie mir, dort wären Sie optimal untergebracht. Außerdem ist von dort unser Biomedizinisches Forschungsinstitut in Zhangjiang wesentlich; einfacher zu erreichen. Ins Institut werden wir nämlich weiterfahren, sobald Sie Ihr Hotelzimmer bezogen haben. Das Friedenshotel hat zwar durchaus historischen
Weitere Kostenlose Bücher