Der Altmann ist tot: Frl. Krise und Frau Freitag ermitteln
ist schon ein Tattoo? In meinem Fitnessstudio ist jede zweite Frau tätowiert. Das gehört heute einfach dazu. Ist doch gemein, wenn sich ein junges Mädchen von ihrer Generation ausgeschlossen fühlen muss, nur weil ihre Familie ihr keinen Körperschmuck erlaubt. Das Gefühl, nicht dazuzugehören, ist ja besonders krass in der Pubertät.
Tattoos sind heute das, was die Tennis-Special-Turnschuhe früher waren. Wenn man die in den achtziger Jahren nicht trug, konnte man einpacken. Also hat der Altmann bei Canans Integration geholfen. Danke, Günther.
Na, Tattoos hin oder her … jetzt sitzt sie da auf ihrem Thron neben ihrem Mann. So richtig glücklich sieht sie nicht aus. Vielleicht hat sie Angst vor der Hochzeitsnacht. Vielleicht befürchtet sie auch, dass man noch Schatten von der weggelaserten Rose auf ihrem Bauch sieht. Vielleicht ist sie keine Jungfrau mehr. Verehrer hatte die bestimmt genug, so schön, wie sie ist.
«Huch, wo kommst du denn her?» Ein kleines Mädchen in einem weißen Kleid steht plötzlich vor mir. Sie sieht aus wie eine Mini-Braut. Sie lächelt mich an.
«Du hast aber ein tolles Kleid an.» Die Kleine streckt ihren Arm zu mir aus und hält mir einen gefalteten Zettel entgegen.
«Ist der für mich?» Sie lächelt verlegen. Wahrscheinlich versteht sie überhaupt nicht, was ich sage.
«Von wem ist der denn? Habe ich einen heimlichen Fan?» Ich habe schon seit der Grundschule keine Liebesbriefe mehr bekommen. Oder ist der von Frl. Krise, die sich in diesem Gewimmel verlaufen hat und mich sucht? Wo steckt die überhaupt? Ich nehme den Zettel, das Mädchen rennt weg und verschwindet zwischen den Tanzenden. Der Zettel ist mehrfach zusammengefaltet. Er erinnert mich an meine Schüler. Immer wenn die Lose machen sollen, dann falten sie die bis ins Unendliche. So, was steht denn nun dadrauf?
Deine Freundin ist zu neugierig!
VERSCHWINDET !!!!
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«Sie hat keen Vaständnis für mir, Frl. Krise, vastehste?» Onkel Ali schüttelt traurig den Kopf und stiert in sein leeres Glas.
«Emine is nich hier jeborn, sie hängt noch mehr an die alte Heimat als wie icke. Wenn se mal een Jahr nich in unser Dorf kann, isse unglücklich. Ick brauch dit nich. Is ma viel zu anstrengend die Reise und, janz ehrlich, ooch zu heiß da. Und der Laden leidet, meen Sohn schafft dit nich alleene. Der hat ja ooch noch sein Job! Yasin, jib ma die Flasche rüber!»
«Ich will nichts mehr, Onkel Ali, wirklich nicht, danke!»
«Een kleen Schluck, Frl. Krise! Prost!»
«Şerefe!»
Onkel Ali rückt näher an mich heran. Er legt seine schwere Hand auf meinen Unterarm und guckt mir tief in die Augen. In seinen Pupillen spiegeln sich die herumwirbelnden Spots an der Decke.
«Frl. Krise, warum seid ihr Frauen so?», flüstert er. «Warum machta uns dit Leben so schwer? Emine, ha’ ick jesacht, fliech alleene zu deine Familie, und jut isset. Aba nee … se lässt nich locker. Ick muss mit! Jenauso wie heute! Dit jibbt sonst keen juten Eindruck von uns, sacht se!»
Ich nicke. Ich verstehe ihn.
Was soll Onkel Ali in «unser Dorf», das nicht mal sein Dorf ist? Er ist hier geboren, er ist ein waschechter Berliner. Als Schulkind ist er gerne in den großen Ferien in die Türkei gefahren – in das kleine Bergdorf, aus dem seine Eltern kamen. Die grünen Hänge, die Olivenbäume, die Ziegen, der Geruch nach Minze und frischem Fladenbrot, die warmen Nächte …
Erst neulich, als es tagelang regnete, hat er von den langen, heißen Sommern seiner Kindheit geschwärmt.
Aber heute? Was soll er da heute? Seine Großeltern sind tot, seine Eltern und Geschwister leben in Deutschland, und Emine hat da auch nur noch ein paar Tanten und Onkel.
Die Frau kann ein ganz schöner Besen sein! Der hat’s nicht leicht, der arme Ali, so gutmütig, wie der ist …
Ich nicke noch einmal und klopfe ihm leicht auf die Hand.
Mein Kopf ist schwer, und irgendwie habe ich das Gefühl, ich mache alles zu langsam, Nicken, das Glas zum Mund führen, geröstete Kichererbsen aus der Schale nehmen – alles zu langsam. Ich spreche auch zu langsam, ich höre es selbst. «Bleib doch einfach hier», sage ich und kämpfe gegen ein aufsteigendes Hicksen an, «du musst dich endlich mal durchsetzen bei deiner Frau!»
Frl. Krise … was redest du da? Jahrzehntelang hast du den Mädchen in der Schule und ihren Müttern gepredigt: Nicht alles gefallen lassen von den Männern! Eine eigene Meinung haben! Sich emanzipieren!
Und kaum setzt dich einer dieser
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