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Der amerikanische Architekt

Der amerikanische Architekt

Titel: Der amerikanische Architekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy Waldman
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passiert das die ganze Zeit. Die Hälfte von dem, was ich in meiner Sendung sage, schockiert mich zutiefst – es kommt aus mir raus und ich denke, ›Also wirklich, Lou, das ist ja wohl das Letzte!‹ Aber ich verleugne es nicht.«
    »Welche Hälfte?«, fragte Mo, aber Sarge, der schon wieder in einen seiner Monologe vertieft war, reagierte nicht darauf.
    Claires vierzigster Geburtstag begann mit einer heißen Schokolade und Croissants, die William und Penelope ihr ans Bett brachten, nachdem Margarita, die im Flur stehen blieb, das Tablett für sie nach oben getragen hatte. Die Kinder kletterten zu ihr unter die Decke, kuschelten sich an sie, drangsalierten sie mit ihren kleinen knochigen Gliedmaßen. Sie hatten Bilder für sie gemalt; die von William zeigten sie mit einem Geburtstagshut auf dem Kopf, der eher wie ein Absperrkegel aussah. Und zum ersten Mal seit der Bootsfahrt gab es auch wieder Zeichnungen des Gartens. Dabei hatte Claire gehofft, der Garten sei allmählich in Vergessenheit geraten.
    »Sind das Lutscher?«, fragte sie und deutete auf ein Wirrwarr roter Tupfer auf grünen Strichen.
    »Nein, Tulpen!«, kicherte er. »Rote Tulpen.«
    »Bist du sicher, dass du nicht lieber ein Beet voller Lutscher hättest?« Sie kitzelte ihn. »Einen Bonbongarten?«
    »Daddy mochte keine Bonbons«, sagte er, und irgendetwas in ihrem Inneren krampfte sich zusammen. Dass William sie daran erinnerte, machte Cals Abwesenheit an diesem Tag noch schmerzlicher. Lebendiger und schmerzlicher. Er hatte immer versprochen, den Schock ihres vierzigsten Geburtstags abzufedern – er war drei Jahre jünger als sie –, und in den Monaten vor seinem Tod hatten sie oft darüber gewitzelt. Seine Pläne waren immer epischer, komischer, ausgefeilter geworden – ein Tauchurlaub auf den Malediven, der einer Reise auf die Galapagos-Inseln weichen musste, die einem Monat auf einer Yacht im Mittelmeer Platz machte, aber auch das wurde als ungenügend verworfen, bis Cal sich zu guter Letzt für eine Reise rund um die Welt entschied (Kinder und vermutlich auch Kindermädchen im Schlepptau), die bis zu Claires einundvierzigstem Geburtstag dauern und bewirken sollte, dass sie voller Sehnsucht an ihren vierzigsten Geburtstag zurückdachte.
    Stattdessen würde sie den Tag trübselig in Chappaqua begehen. Sie würde Anrufe entgegennehmen – von ihrer Mutter in Kalifornien, ihrer Schwester in Wisconsin, ein paar Freunden, Cals Eltern. Es würde diverse von Computern verschickte E-Mails von Fitnessstudios und Boutiquen geben, die ihren »ganz besonderen« Tag nie vergaßen. Beim Abendessen würden die Kinder sie mit dem Kuchen überraschen, den sie mit Margarita gebacken hatten, ihr ein Geburtstagsständchen bringen, wahrscheinlich mehr als einmal. Dann würden sie ins Bett gebracht werden. Anschließend würde Claire ein Glas Wein trinken und den Abend so schnell wie möglich ausklingen lassen. Und im Hintergrund immer, auch jetzt, auch heute, jeden Tag, das beharrliche Winseln der Kontroverse um die Gedenkstätte. Das Treffen mit Alyssa Spier lag erst wenige Tage zurück, und trotz Claires Widerstand hatten sich die Andeutungen Spiers über Khan in ihr festgesetzt und sich rund um ihre eigenen Zweifel geringelt. Dieses abstoßende, an ein Reptil erinnernde Misstrauen – es ließ sie einfach nicht mehr los.
    Am Vormittag gönnte sie sich eine Massage und erteilte dem Gärtner Anweisungen für die Herbstbepflanzung, für die sie sich, wieder einmal, der Tyrannei der Chrysanthemen gebeugt hatte. Als gegen Mittag ein Transporter vorfuhr und eine große Pflanzschale ablieferte, war Claire allein für die Überraschung so dankbar, dass ihr fast die Tränen kamen. Sie befingerte den kleinen Umschlag mit der Karte und wünschte sich fast wie ein Kind: Bitte, bitte mach, dass die Blumen nicht von irgendeinem liebeskranken Tattergreis sind (beispielsweise Paul Rubin oder ihrem Finanzberater). Lass sie von – sie wusste nicht einmal, welchen Namen sie suchte, spürte nur dieses Sehnen in ihrem Inneren, die plötzliche, schmerzliche Verzweiflung über ihre Isolation. Ihre Versteinerung.
    »Manche Tage sind wie manche Menschen. Man kann sie nur schwer vergessen«, las sie. »Ich hoffe, mein kleines Geschenk freut Dich. Alles Liebe, Jack.«
    Sein Wunsch war in Erfüllung gegangen – es war fast nicht zu glauben, wie sehr sie sich freute. Sie und Jack Worth, der in Dartmouth zwei Jahre über ihr gewesen war, hatten mit Unterbrechungen eine längere

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