Der amerikanische Architekt
sich selbst, den überlebenden Bruder, den immer bemühten Sohn, den schäbigen kleinen Handwerker und zukünftigen Anzugträger, den Typ, der einer Frau das Kopftuch abriss, und den, der sich dafür entschuldigte und irgendwie beides meinte. Sein Mitempfinden machte sich an neuen, ungewissen Punkten fest. Er konnte ihm – konnte sich selbst – nicht mehr trauen.
Genauso wenig, wie er Claire Burwell trauen konnte. Da war sie, kämpfte sich aus dem Rathaus, umringt von aufgeregten Familienangehörigen. Sowieso größer als die meisten, mühte sie sich nun mit der königlichen Ungehaltenheit einer Frau, die sich für etwas Besseres hält, den Kopf noch höher zu tragen. Die Menschen schoben sich mit ihr die Treppe hinunter, so dass es aussah, als führe sie sie an, obwohl sie versuchte, sie abzuschütteln. Sie drängten sich dicht um sie, um die Fragen zu hören, die sie nicht beantwortete.
»Claire!«, schrie er. »Claire Burwell!« Er lief die Stufen hinauf, zwängte sich ins Gewühl und packte sie grob am Arm, um sie aus dem Gedränge zu ziehen. Gemeinsam hasteten sie in den Park, der das Rathaus umgab, wo sie sich von ihm losmachte.
»Sie tun mir weh«, schimpfte sie und rieb sich die Stelle, wo seine Finger ihren Arm umklammert hatten.
»Ich habe nur versucht, Ihnen zu helfen.«
»Natürlich. Sie sind ja ein so hilfsbereiter Mensch, Sean. Ich bin sicher, Sie wollten mir auch helfen, als Sie mit dieser Bande vor meinem Haus aufgetaucht sind.«
Es war ihm peinlich, dass sie ihn dabei beobachtet hatte, obwohl er sich genau das damals gewünscht hatte. Während er an jenem Tag darüber gegrübelt hatte, wie er sie dazu bringen konnte, sich von Khan loszusagen, hatte er sich auch vorgestellt, dass sie oben im Haus nackt auf ihn wartete, auf ihn, Sean. Die Vorstellung, in sie einzudringen, war angesichts ihrer Nähe so erregend, dass er den Stein am liebsten geworfen hätte, um sich abzureagieren. Es war ihm nicht neu, dass Zorn und Sex eng miteinander verwandt waren, aber er hatte noch nie erlebt, dass sie sich so gewaltsam paarten.
»Und auf dieser Kundgebung«, fuhr sie fort. »Als Ihre Leute diese Bilder von mir schwenkten, mit dem Fragezeichen über dem ganzen Gesicht, da wollten Sie mir auch helfen, richtig?« In ihrer Stimme lag blanke Verachtung.
Um ihre Schönheit zu neutralisieren, konzentrierte er sich auf die schwachen dunklen Schatten, wie ausradierte Bleistiftstriche, die unter ihren Augen lagen, auf die zarten Linien, die sich dort abzeichneten. »Ich wollte Ihnen damit nur sagen, dass Sie uns Rätsel aufgeben, Claire. Das tun Sie immer noch. Mein Vater vorhin auf dem Podium – wie kann er Ihnen gleichgültig sein? Sie haben Khan den Vorzug vor ihm gegeben. Khan, der heute dort oben saß und uns seinen islamischen Garten um die Ohren gehauen hat, hatte nicht einmal den Anstand vorzugeben, er sei etwas anderes. Was haben sie Ihnen getan, Claire, meine Eltern und die anderen, dass Sie ihren Schmerz einfach nicht sehen wollen?«
»Ich sehe ihn. Das macht es ja so schwer.« Ihre Mundwinkel zitterten. Das Poster mit dem Fragezeichen über ihrem Gesicht, sein zweifelhafter Geniestreich für die Kundgebung, war nicht falsch gewesen. Wut über ihre Durchschaubarkeit ergriff ihn, der Wunsch, die Schwäche, die Mehrdeutigkeit, die Zweifel zu zerstören, die er auf ihrem Gesicht sah. Denn andere konnten das alles sicher auch auf seinem Gesicht sehen.
Sie stand stockstill da, während er auf und ab marschierte und sie einmal sogar umrundete. »Sie wissen nicht, was Sie wollen«, sagte er, vor ihr stehen bleibend, sich des Größenunterschieds zwischen ihnen schmerzlich bewusst. »Sie wissen zwar, was Sie wollen sollten, aber nicht, was sie wirklich wollen. Treten Sie beiseite, Claire. Lassen Sie Leute, die wissen, wo sie stehen, diese Sache zu Ende ausfechten.«
»Nein! Gerade Menschen wie ich, die beide Seiten sehen, werden jetzt gebraucht. Das Ganze nennt sich Empathie.« Ihr Tonfall war jetzt herablassend, bevormundend.
»Es nennt sich Feigheit! Sie können meinetwegen alle Seiten sehen, die Sie wollen, aber Sie können nur auf einer stehen. Einer! Sie müssen sich entscheiden, Claire. Entscheiden!« Er schrie jetzt. Die vertraute, gefürchtete Anspannung, das Aufbauen der Frustration, hatte begonnen. Seine Hände, die an den Seiten herabhingen, ballten sich zu Fäusten, lösten sich, ballten sich erneut.
»Sean! Sean Gallagher!«, hörte er seinen Vater rufen. Hinter Claire sah er Frank auf
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