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Der amerikanische Architekt

Der amerikanische Architekt

Titel: Der amerikanische Architekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy Waldman
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sich zustürmen, soweit man bei einem dreiundsechzigjährigen Mann von stürmen reden konnte. Falls er versuchte, Sean vor sich selbst zu retten, funktionierte es.
    Seans Arme schossen auf Claire zu, als wolle er ihr einen Basketball zuwerfen, so dass sie unwillkürlich zurückzuckte und Mühe hatte, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Aber er berührte sie nicht. Er hatte sie nicht berührt.
    Es war schon dunkel und fing an zu regnen, als Claire zum Treffpunkt der Jury kam, dem Büro im zwanzigsten Stock. Der Lichtschein vom Gelände tief unten, das wie immer für die Nacht beleuchtet wurde, schien vor den Fenstern zu schweben wie eine Aurora Borealis. Claire konnte nicht aufhören hinzusehen.
    Ihr Arm schmerzte noch immer von Seans Griff, in ihrem Kopf schwirrten seine anklagenden Worte wild durcheinander. »Vielleicht ist es etwas anderes, einen Ehemann zu verlieren«, hatte seine Mutter zu ihr gesagt. Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht war das Problem nicht die Leidenschaftlichkeit der Gallaghers, sondern Claires Mangel an Leidenschaft, ihre Vernunft, ihre Rationalität, die etwas über ihre Ehe verrieten – anderen ebenso viel wie oder mehr noch als ihr selbst. Cal geliebt zu haben – sie wusste nicht mehr, wozu sie das verpflichtete.
    Auch die Zwischen- und Schmährufe, die Khan über sich hatte ergehen lassen müssen, schwirrten ihr im Kopf herum. Wenn Sie ihm Fragen stellte, würde sie dadurch, fürchtete sie, auf die Seite derer katapultiert, die ihm so zusetzten, aber Fragen waren alles, was sie hatte. Wenn der Garten islamisch war, bedeutete das auch, dass er ein Paradies war, und machte ihn das zu einem Paradies für Märtyrer, und so weiter? Jede Frage beinhaltete eine andere, wie die ineinander gekuschelten Matrjoschka-Puppen, die Cal als spielerisches Familienporträt in Auftrag gegeben hatte.
    Seine ursprüngliche Idee für die Puppen, die er dem ehemaligen Kunstrestaurator aus Moskau vorlegte, den er aufgetrieben hatte, sah vor, dass die kleine Penelope in William sitzen sollte, dieser in Claire, und die wiederum in Cal. Aber als William wissen wollte, wieso Daddy die größte Puppe sein durfte, bestellte Cal drei weitere Sätze, so dass alle einen Satz hatten, bei dem sie selbst die größte Puppe waren. Und nun konnte Claire eine Matrjoschka nur aus sich selbst zusammenzustellen – Claire in Claire in Claire in Claire. Während der Anhörung hatte es geschienen, als hätten sich all diese unterschiedlichen Claires, die sich nur zufällig ähnelten, in ihr versammelt, so dass jedes Argument, gleich wie sehr es den anderen widersprach, auf Verständnis stieß. Jedes Mal, wenn sie dachte, die letzte Claire erreicht zu haben, die echte und beständige, stellte sich das als Irrtum heraus. Sie konnte ihren eigenen Wesenskern nicht mehr finden.
    »Wir haben Monate damit verschwendet, eine Orientierungshilfe zu liefern?«, hörte sie Elliott, den Kritiker, sagen.
    »Es ist, als würde man die Allgemeinheit über eine Professur entscheiden lassen«, empörte sich Leo, immer der getreue Verfechter des akademischen Lebens, als gäbe es in seiner Vorstellungswelt keinen größeren Affront.
    Während Claire vor sich hin geträumt hatte, hatte sich der Raum mit den anderen Juroren gefüllt. Erboste Juroren, die Paul angifteten, weil er der Öffentlichkeit das letzte Wort übertragen hatte.
    Paul sah betreten aus. »Ich habe nur versucht, Sie zu schützen«, sagte er. »Sie haben doch selbst erlebt, welchen Tenor die Anhörung hatte. Wenn die Entscheidung allein auf den dreizehn Individuen in diesem Raum lasten würde, könnte man uns, Sie alle, zu leicht zur Zielscheibe machen. Uns Konsequenzen anlasten, die wir unmöglich vorhersehen können. Da ist es doch besser, wenn die Stimmen, die wir heute gehört haben – die lautesten, die traurigsten, was immer Sie wollen –, auch ins Gewicht fallen.«
    »Die traurigsten, haben Sie gesagt?«, fragte Ariana. »Die beeindruckendste Sprecherin war diese Frau aus Bangladesch.« Mehrere Köpfe nickten. »Lassen wir sie entscheiden.«
    »Sie heißt übrigens Asma Anwar«, sagte Violet, die Vertreterin des Bürgermeisters, nach einem Blick in ihre Unterlagen.
    »Eine authentische Stimme«, kam es rau von Maria, der Kunstkuratorin.
    »Was macht ihre Stimme authentischer als die von Frank Gallagher?«, warf Claire ein, deren Arm immer noch schmerzte. Die Rede der jungen Frau, so bewegend sie auch gewesen war, hatte sich für Claire auch wie ein unterschwelliger

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