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Der amerikanische Architekt

Der amerikanische Architekt

Titel: Der amerikanische Architekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy Waldman
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für die Gedenkstätte zu erkämpfen, und erreichte, dass das dafür bereitgestellte Gelände verdoppelt wurde. Sein »Autoritätsproblem«, wie Eltern und Lehrer es immer genannt hatten, war ein offizieller Vorteil geworden. Bald hielt er überall im Land Reden – meistens in Kleinstädten, die niemand sonst besuchen wollte –, vor Rotary und Kiwanis Clubs, vor Polizei-, Feuerwehr- und Veteranen-Verbänden, alle interessiert an Berichten aus erster Hand über die Rettungs- und Bergungsmaßnahmen. In Seans Kopf, und in seinen Reden, verwandelten sich selbst seine Schwächen in Beweise seines Engagements. »Sieben Monate lang war ich jeden einzelnen Tag auf dem Gelände«, erzählte er den Menschen, die sich versammelt hatten, um ihn zu hören. »Meine Ehe ging in die Brüche« – an dieser Stelle wurde immer mitfühlend gemurmelt –, »ich verlor meine Arbeitsstelle, ich verlor mein Zuhause, aber das ist nicht weiter wichtig.« Eine Pause. »Mein Bruder, mein einziger Bruder – verlor sein Leben.« Manchmal gab es an dieser Stelle unwillkürlichen Applaus, was immer ein wenig merkwürdig war. Sean lernte, den Blick zu senken, bis der Applaus verklungen war.
    Auch nach Hause zurückzuziehen und wieder bei seinen Eltern zu wohnen, nachdem Irina und er sich getrennt hatten, fühlte sich richtig an. Das bescheidene viktorianische Haus in Brooklyn war immer so gut es irgend ging in Schuss gehalten worden – Eileen hatte versucht, das Beste aus knappen Mitteln zu machen –, aber als Sean wieder einzog, blätterte der Außenanstrich, Türen quietschten, eine Maus hinterließ frech ihre Spuren. Unaufgefordert fing Sean an abzudichten, aufzuräumen, sauberzumachen, zu schmirgeln, zu streichen, zu ölen, zu kitten. Sich nützlich zu machen. Er hängte alle Familienfotos im Flur ab und ersetzte sie durch Fotos von Patrick. Eileen, die für Sean, das jüngste von sechs Kindern, nie viel mütterliche Beachtung übrig gehabt hatte, fing an, sich mehr für ihn zu erwärmen.
    Aber dann wurde er nicht in die Gedenkstättenjury berufen, und die Vortragsanfragen kamen immer seltener, als bewege sich das Land ohne ihn weiter. In den Filmen, die Sean sich ansah, war Anerkennung etwas, was man, einmal errungen, nie wieder verlor. Im wirklichen Leben verhielt es sich eher so, als stapfe man eine Rolltreppe hinauf, die nach unten fuhr: Sobald man stehen blieb, um sich selbst zu beglückwünschen, ging es abwärts. Sein altes Ich trat wieder stärker in den Vordergrund, was vor allem seiner Mutter auffiel. In den letzten Monaten war sie zu ihrem alten brüsken Verhalten zurückgekehrt, forderte ihn barsch auf, sein Bett gefälligst selbst zu machen, was ihn doppelt kränkte, weil es ihn an seine Kindheit erinnerte. Sein Vater nannte ihn ständig Patrick, und Sean brachte es nicht übers Herz, ihn zu korrigieren. Eileen allerdings tat es, mit ätzendem Tonfall. Und der »Reparaturservice«, den er wieder hatte aufleben lassen, fühlte sich an wie ein Anzug, aus dem er herausgewachsen war, ohne sich einen neuen leisten zu können. Vor zwei Tagen hatte er einen Job geschmissen, weil die Frau, für die er Ikea-Regale aufbauen sollte, ihn abends gebeten hatte, den Müll mit nach unten zu nehmen. »Wissen Sie eigentlich, wer ich bin?«, hätte er sie am liebsten angeschrien, aber die ehrliche Antwort hätte zu sehr geschmerzt. Er war nur ein kleiner Gelegenheitshandwerker, der bei seinen Eltern wohnte.
    Alyssa Spier verfolgte gebannt, wie ihr sensationeller Artikel über den mysteriösen Muslim von der Nachrichtenmaschinerie aufgesaugt wurde, losrollte und jede unbedeutendere Story unter sich begrub. Mittags war sie bereits für drei Nachrichtensendungen im Fernsehen gebucht und hatte vier Radiointerviews hinter sich.
    Auf einem Stuhl sitzend wartete sie darauf, für ihren Fernsehauftritt zurechtgemacht zu werden. Gleich neben ihr saß ein Moderator vom Lokalfernsehen, der sich darüber beschwerte, dass die Farbe des aufgetragenen Make-ups seine Sonnenbräune nicht genügend zur Geltung kommen ließ. Als sich die Maskenbildnerin Alyssa zuwandte, bei der es keine Sonnenbräune gab, die nicht zur Geltung kommen konnte, fing der Moderator an, seinen Text durchzugehen: »Wie die New York Post berichtet, wurde ein Muslim ausgewählt« – mit genau der richtigen ironischen Überraschung auf der zweiten Silbe von Muslim. »Noch hüllt die Jury sich in Schweigen, aber bleiben Sie auf jeden Fall auf Sendung«, fügte er vielsagend hinzu, um

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