Der amerikanische Architekt
Blick auf den New York Post- Stapel auf der Ablage. Sein Herz fing an, so unüberhörbar zu hämmern, so zumindest kam es ihm vor, dass er die Hand auf die Brust legte, um den Lärm zu dämpfen. Der Verkäufer, der die Geste für eine Begrüßung hielt, legte ebenfalls die Hand auf die Brust und murmelte ein: »As-salamu alaikum.«
»Alaikum as-salam«, erwiderte Mo, die Worte fremd und gummizäh auf seiner Zunge, als er sich eine der Zeitungen griff. Er schlug sie auf, um zu lesen. Die Worte »Will der Islam uns auch noch verhöhnen?« gellten ihm über einem Foto des verwüsteten Anschlaggeländes entgegen. Mit zitternder Hand suchte er in seinen Taschen nach Kleingeld und schob dem Verkäufer schließlich einen Fünf-Dollar-Schein zu. Im Gehen las er weiter, ohne auf das Gedränge und Geschiebe zu achten, das auf dem Bürgersteig herrschte. Ein Beobachter hätte sich vielleicht gefragt, welche fesselnde Neuigkeit ihn so blind und taub und achtlos machte, einen New Yorker Fußgängerüberweg zu betreten und mitten auf der Straße lesend stehenzubleiben, so dass die Menge um ihn herumstrudelte wie Wasser um einen Felsen.
Ein Muslim hatte gewonnen! Aber niemand wusste, wer er war.
Die gellende Hupe eines Taxis scheuchte ihn vom Zebrastreifen auf den Bürgersteig. Zitternd vor Aufregung blieb er stehen. Es hatte fünftausend Bewerbungen gegeben. Abgesehen von einer kurzen Bestätigung des Eingangs seiner Unterlagen, die schon vor Monaten gekommen war, hatte er nichts mehr gehört. Aber ein Muslim hatte gewonnen. Es konnte niemand anderes als er sein.
Am Abend klebte er die Titelseite der Post an seinen Badezimmerspiegel und stellte fest, dass der vermummte Mann ihn mit kalten, erbarmungslosen Augen anstarrte. Henkersaugen. In diesem Bild konnte Mo sich unmöglich wiederfinden, und darum ging es ihm. Am nächsten Tag vergrößerte er das Foto, das er seiner Bewerbung beigefügt hatte, und pappte es über das Bild aus der Post . Nun, da das Hässliche und Unheimliche verdeckt war, konnte er so tun, als sei es nicht mehr da.
7
E s gab keine Gebäude, keine Wege, keine Straßen, nur Berge brennenden Gerölls. Sein Bruder, Patrick, musste irgendwo hier sein. Sean war sich bewusst, dass er sich ein bisschen zu sehr wünschte, derjenige zu sein, der ihn fand, und gleichzeitig Angst hatte, ihn nicht zu erkennen, wenn es so weit war. Sie hatten sich monatelang nicht gesehen. Sean versuchte immer wieder, sich Patricks Gesicht in Erinnerung zu rufen, nur um zu erkennen, wenn sie wieder einmal auf eine verstümmelte Leiche stießen, dass Gesichter in der Erinnerung und im Tod nicht unbedingt übereinstimmen müssen.
Stunden vergingen. Tage. Er konnte nicht richtig atmen, konnte nicht richtig hören – irgendeine neue Unterwasserwelt, das alles. Über ihm gleißten Scheinwerfer wie bei Dreharbeiten für einen Film, aber das einzige Licht, das zählte, kam von den anderen Mitgliedern der Suchmannschaft. Oft vor lauter Rauch und Staub kaum zu erkennen, verdeckt von Geröllbergen, waren die Rettungshelfer nur Stimmen, aber das war genug. Jedes Mal, wenn er die Hand ausstreckte, stand ein anderer bereit, um ihm was auch immer zu reichen oder abzunehmen. Mit der Zeit ergab sich eine handhabbare Ordnung: sterbliche Überreste hier, persönliche Gegenstände da, dahinter die zerstörten Autos, die roten und die gelben Siebe, die Zelte, Dienstbereiche, Kantinen und Ambulanzen, das Fließband, eine Welt, die für Sean realer war als die Stadt jenseits davon. Wenn er abends zurück nach Brooklyn fuhr, war es, als kehre er aus einem Krieg nach Hause zurück, bloß dass Zuhause sich nicht mehr wie Zuhause anfühlte. Er konnte nicht fassen, worüber die Leute redeten oder nicht redeten, wie sauber ihre Fingernägel waren, wie unberührt ihre Tagesabläufe. Seine Frau sagte, er rieche nach Tod, und er konnte nicht verstehen, dass sie sich davon abgestoßen fühlte. Der Staub, den er mit nach Hause brachte, war ihm heilig. Er schüttelte Schuhe und Hemd über Zeitungspapier aus, um ihn zu sammeln und aufzubewahren.
Fast zwei Jahre später war das Anschlagsgelände eine aufgeräumte, ebene Fläche und auf der anderen Seite des Flusses, in Brooklyn, ähnelte das Haus der Gallaghers dem Hauptquartier einer Wahlkampagne. Zehn Mitglieder von Seans Familie und ebenso viele Mitglieder seines Gedenkstättenkomitees drängten sich um den Tisch, der so weit ausgezogen war wie sonst nur an Thanksgiving. Diverse Exemplare der Post lagen
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