Der amerikanische Architekt
Story ging, und weil sie die Story, bei der sie nicht wusste, worum es ging, nicht selbst aufgetan hatte.
»Sie trauen sich nicht«, sagte Alyssa. »Jemand hat sie unter Druck gesetzt.«
»Wenn du das durchziehst, kannst du nicht wieder zur News zurück. Kommst du damit klar, für die schofelige Post zu arbeiten?« Ihre Stimme, die wie brüchiges Leder klang, zeugte von dreißig Jahren voller überquellender Aschenbecher in den überfüllten Redaktionsräumen eines noch rauchverbotsfreien New York.
Alyssa hatte immer abfällig auf die Post herabgeblickt, so wie die Mitarbeiter der Times abfällig auf sie selbst herabblickten. Aber es war nicht das erste Mal, dass Fred sie auflaufen ließ. Seine neu gefundene Vorsicht war kein Pluspunkt für den Chefredakteur einer Boulevardzeitung, aber es war seine Arroganz, die den Ausschlag gab. Sie wusste, dass er und Paul Rubin befreundet waren. Alyssa, die sich aus einem trostlosen Kaff oben im Norden bis hierher durchgeboxt hatte, konnte keine Freunde dieses Kalibers vorweisen.
Sie hatte lange für den Weg nach New York City gebraucht, wo sie sich selbst immer gesehen hatte. Während ihres Exils in den Einöden des amerikanischen Nirgendwo – Brattleboro, Duluth, Syracuse, lauter Provinznestern, die ihrem Geburtsort viel zu ähnlich waren – hatte sie immer das entsetzliche Gefühl gehabt, dass die Dinge nicht so liefen wie geplant, obwohl sie jedem erzählte, sie liefen genau so, wie sie sie geplant hatte. Als sie endlich bei der Daily News angekommen war, elf Jahre und acht Leitersprossen später, wusste sie ziemlich genau, wo ihre Stärken und Schwächen lagen. Sie war nicht gut genug für die wirklich hochkarätigen, blaublütigen Zeitungen, außerdem war sie nicht an deren schwer verdaulicher, penibel korrekter Version der Nachrichtenvermittlung interessiert. Sie war mit Leib und Seele Boulevardreporterin. Sie verschrieb sich keiner Ideologie, ihr Glaubensbekenntnis waren die Informationen, die sie beschaffte, besorgte, eintauschte, ergatterte, verpackte und veröffentlichte, und sie wehrte sich gegen jeden Versuch, an ihrem Produkt herumzudoktern. Der Kitzel, den sie jedes Mal empfand, wenn sie ein noch so kleines Stückchen Neuigkeit ausgrub und der Öffentlichkeit präsentierte, war so aufregend wie beim ersten Mal, als sie den Direktor ihrer High School mit dem Gerücht konfrontiert hatte – sie hatte es als Tatsache hingestellt –, ein Lehrer habe Geld aus dem Kuchenbasar in der eigenen Tasche verschwinden lassen. Schock, Angst, Beschwichtigungsversuche zogen wie Wolken über sein Gesicht, und sie sah, dass sie das Wetter machen konnte. Außerdem konnte sie bewirken, dass diebische Geometrielehrer in andere Schulbezirke versetzt wurden.
Ihr Chefredakteur, der Vorsitzende der Jury, die ganze hochtrabende, hochdotierte Bande, waren anders, der Wahrheit nur so lange verpflichtet, wie sie ihre Clique nicht in Unannehmlichkeiten brachte. Also hatte sie die Seiten gewechselt, und die Folgen dieses Seitenwechsels regneten nun auf die Stadt herab. Das Angehörigenbarometer, ein journalistisches Genre, das sich im Lauf der letzten zwei Jahre herausgebildet hatte, lief auf Hochtouren. Jeder Reporter hatte ein digitales Adressbuch von Witwen und Witwern, Eltern und Geschwistern der Toten, die man anrufen konnte, um ihre Meinung zu den Themen des Tages einzuholen: zum Zustand des Geländes, zur Festnahme eines Terrorverdächtigen, zu Foltervorwürfen, die besagter Verdächtiger erhob, zu Entschädigungssummen, Verschwörungstheorien, den Gedenktagen (erst jeden Monat, dann halbjährlich, dann jährlich), bis hin zu geschmacklosen Souvenirs, die auf dem Markt auftauchten. Irgendwie hatten die Angehörigen immer irgendwas zu sagen.
Die Gouverneurin, zu Beginn der Kontroverse mysteriöserweise unauffindbar – garantiert wartete sie die ersten Meinungsumfragen ab, dachte Alyssa –, tauchte wieder auf und äußerte »tiefe Besorgnis« angesichts der Möglichkeit eines muslimischen Gedenkstättenerbauers, ohne sich mit den liberalen Rücksichtnahmen zu belasten, um die der Bürgermeister so bemüht war. Ihr Gesicht glühte wie das einer Frischverliebten, oder wie das einer Frau, dachte Alyssa, die soeben ein Thema gefunden hat, das ihr zu nationaler Berühmtheit verhelfen könnte. Alyssa, deren Ambitionen ganz ähnlich geartet waren, sah sich bereits als Begleiterin einer Präsidentschaftskandidatin auf ihrer Wahlkampfreise von Staat zu Staat.
Paul Rubin schaute
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