Der amerikanische Architekt
Seniorpartner der Kanzlei ihn zum Mittagessen in ein steifes, elegantes Restaurant eingeladen, wo die Kellner weiße Servietten über dem Arm trugen, und Paul hatte gleich als erstes sein Glas Cranberrysaft umgestoßen, ein denkbar unglücklicher Anfang. Der Seniorpartner hatte weder so getan, als sei nichts passiert, noch hatte er versucht, der Situation mit einem freundlichen kleinen Scherz die Peinlichkeit zu nehmen. Stattdessen hatte er beobachtet, wie sich der Fleck auf dem Tischtuch ausbreitete, als handele es sich um Menstruationsblut. Dann hatte er Paul in die Augen gesehen. Zu seiner großen Überraschung – es überraschte ihn bis zum heutigen Tag – hatte Paul den Blick des Mannes einfach erwidert, ohne sich zu winden, ohne rot zu werden, ohne zu versuchen, an dem Fleck herumzutupfen. Er nahm auch keinen Blickkontakt zu dem Kellner auf, der gleich darauf herbeieilte, um das Tischtuch mit, wie Paul fand, unnötig viel Getue auszuwechseln. Jener endlose, wortlose Augenblick lehrte Paul, was fast zwei Jahrzehnte Schule, College und Jurastudium ihn nicht gelehrt hatten. Intelligenz war nur der halbe Erfolg, vielleicht sogar weniger; die andere Hälfte war ein namenloses Spiel, dessen Münze Psychologie lautete. Um zu gewinnen, musste man einschüchtern oder bluffen. Im Lauf der nächsten Jahre befreite diese Erkenntnis ihn langsam von sich selbst und von einem hinter juristischen Fachbüchern verschanzten Leben. Er arbeitete nie als Anwalt, ging sofort als Juniorpartner zu einer Investmentbank, schloss die ersten kleineren Verträge ab. Er liebte das Spiel mit dem Risiko. Zu lernen, dass Katastrophen sich überleben oder sogar manipulieren ließen, machte ihn frei. Auch Khan schien diese Lektion gelernt zu haben. Oder vielleicht brachte Paul sie ihm gerade bei. Er war sich an diesem Tag nicht sicher, ob die Tatsache, dass er Khan und dieser umgekehrt ihn gedemütigt hatte, die Erinnerung an damals wachgerufen hatte.
»Sie scheinen das hier für ein Spiel zu halten, Mr Khan.«
»Es ist ein Spiel. Für das Sie die Regeln aufgestellt haben. Und jetzt versuchen Sie, sie zu ändern.«
»Ich versuche gar nichts zu ändern«, sagte Paul. »Ich lasse, wie bereits gesagt, nur die gebotene Sorgfalt walten. Die Öffentlichkeit könnte sich beispielsweise fragen, was der Designer der Gedenkstätte in Afghanistan zu suchen hatte.« Paul hatte nicht vorgehabt, diesen Punkt zur Sprache zu bringen, beschloss aber, es nicht zu bedauern. Es könnte nützlich sein zu sehen, wie Khan sich verhielt, wenn er überraschend mit etwas konfrontiert wurde.
Er reagierte mit der Souveränität eines gut vorbereiteten Bewerbers. »Ich war vor sechs Monaten im Auftrag von ROI in Afghanistan«, sagte er. »Wir hatten uns um den Bau der neuen amerikanischen Botschaft dort beworben, haben den Auftrag aber nicht bekommen – was keine große Überraschung war, falls Sie die Arbeiten von ROI kennen. Aber ich war froh, die Gelegenheit zu haben, ein Land zu sehen, das für Amerika so wichtig geworden ist.«
»Dann ist Ihnen ja sicher auch bewusst, wie wichtig diese Gedenkstätte für Amerika ist«, sagte Paul und fügte drängender hinzu: »Sie werden Ihr Land doch sicher nicht spalten wollen.«
»Natürlich nicht.«
»Es ist schwer abzusehen, wie sich das verhindern lassen soll. Wenn Sie auf Ihrem Standpunkt beharren.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich will damit gar nichts sagen. Außer, dass ich nicht verstehe, wie jemand, der Amerika liebt und will, dass es sich von diesem Schicksalsschlag erholt, es der Art von Auseinandersetzung aussetzen kann, die die Auswahl eines Muslims garantiert hervorrufen wird. Denken Sie an die Geschichte von Salomon und dem Kind.«
»Sollten Sie das nicht lieber zu den Leuten sagen, die sich auf diese Auseinandersetzung vorbereiten? Ich habe nicht das Geringste getan, ich habe nur einen Garten entworfen.«
»Diese Leute haben auch nichts getan. Sie haben nur Männer, Frauen, Kinder, Eltern verloren.«
»Und das macht sie moralisch überlegen?«
»Einige würden das sicher so sehen, ja«, sagte Paul mit einem unterkühlten Lächeln und drehte sich um, um den Kellner herbeizurufen.
»Ich könnte meinen Namen ändern«, sagte Khan, als Paul seinen Kaffee bestellt hatte.
»Sie wären nicht der erste Architekt, der das tut«, nickte Paul. »Allerdings waren die meisten von ihnen jüdischer Abstammung.«
»Das sollte ein Witz sein.«
»Mein Urgroßvater hieß Rubinsky. Dann kam mein Großvater
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