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Der amerikanische Architekt

Der amerikanische Architekt

Titel: Der amerikanische Architekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy Waldman
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in Bangladesch – damals noch Ost-Pakistan – zu erlauben, eine Regierung zu bilden, hatte ihr Vater seine Bücher niedergelegt, die Universität verlassen und sich dem Kampf angeschlossen. Hunderttausende oder sogar Millionen Tote später hatte Bangladesh seine Unabhängigkeit. Die Geschichten, die ihr Vater erzählte, hatten als Kind großen Eindruck auf Asma gemacht. Damals hatte sie beschlossen, ebenso tapfer zu sein wie er, nur um zu erfahren, dass das von ihr als Frau nicht erwartet wurde.
    Am Haus angelangt machte sich Asma an die mühevolle Aufgabe, einen Teil ihrer Einkäufe die vier Treppen nach oben zu schleppen und dann wieder nach unten zu gehen, um die nächste Ladung zu holen. Den Sack Reis – fünfundzwanzig Pfund – hob sie sich bis zum Schluss auf. Er wog weniger als ihr Sohn, war aber trotzdem schwerer zu tragen. Als sie den Sack aus dem Karren hievte, rieselten Körner auf den Boden. Beim Nachsehen entdeckte sie ein kleines Loch in einer Ecke und eine Spur weißer Körner, die sich bis zur Haustür zog. Draußen lag noch mehr Reis. Die Vögel pickten ihn bereits auf. Seufzend drehte sie den Sack um, damit nicht noch mehr Körner herausrieselten, legte ihn wieder in den Karren und folgte ihrer eigenen Spur zurück zum Laden.
    Tapferkeit, dachte sie im Gehen, hatte nicht ausschließlich etwas mit Körperkraft zu tun. Man brauchte auch eine Gelegenheit dafür. Kriege waren selten. Das hatte sie sich immer wieder ins Gedächtnis gerufen, wenn sie sich gefragt hatte, ob Inam ein ebenso mutiger Mann sei wie ihr Vater. Inam war in eine andere, weniger bedeutungsschwere Zeit hineingeboren worden, und im alltäglichen Leben war es schwer, das richtige Anliegen zu finden, für das man sich einsetzen konnte. Das hatte sie am eigenen Leib erfahren.
    Kurz nach ihrer Heirat, sobald sie sich einigermaßen in Kensington eingelebt hatte, hatte Asma beschlossen, dass sie arbeiten wollte. Ihr Wunsch, so gegen jede Konvention, hatte Inam zögern lassen, auf seine sanfte Art hatte er versucht, sie davon abzubringen. Außerdem hielt er ihr Ansinnen für wenig aussichtsreich: Sie hatte nur die High School besucht und sprach so gut wie kein Englisch. Aber schließlich hatte er mit einem bengalischen Apotheker in der Church Avenue gesprochen, einem Hindu namens Sanjeev, dessen Tochter, die immer im Geschäft mitgeholfen hatte, gerade aufs College gegangen war, wie Mr Sanjeev jedem, der durch die Tür kam, stolz erzählte. Er erklärte sich bereit, es mit Asma zu versuchen. Und es war für sie völlig unbedenklich, für ihn zu arbeiten: Er war ein allseits geachteter Mann, dessen Frau und Schwägerin ebenfalls in der Apotheke halfen. Asma sollte seiner Frau zur Hand gehen und die Pillen für die Verschreibungen abzählen. Die Arbeit war eintönig und nicht sehr anspruchsvoll, aber Asma war sehr stolz auf ihre Genauigkeit. Sanjeevs Frau kontrollierte alles, was sie tat, auf Fehler, bis sie merkte, dass Asma keine machte. Das Zählen hinderte sie nicht daran wahrzunehmen, was sich sonst in der Apotheke abspielte. Eine Zeitlang wusste sie mehr über die Wehwehchen der Nachbarschaft als Mrs Mahmoud. Mr Sanjeev war wie ein Arzt, erzählte sie Inam am Abend. Alle kamen zu ihm und fragten ihn um Rat, nicht nur Leute aus Bangladesch, sondern auch schwarze und spanisch sprechende Leute.
    Wie sie es sah, hatte Mr Sanjeev nur einen Fehler, seinen Geiz. Fast nie gewährte er einem Kunden Kredit, abgesehen von ein paar wenigen Hindus, die er persönlich kannte. Gelegentlich brauchten die Leute aber Medikamente, bevor sie ihren Gehaltsscheck oder das Geld von der Fürsorge bekamen, doch Mr Sanjeev bestand auf sofortiger Barzahlung. Eines Tages beschloss Asma, etwas zu sagen. Ihr Vater hatte oft Geld verliehen, ohne je Zinsen dafür zu verlangen. Er hätte das Verhalten von Mr Sanjeev nicht gebilligt, da war sie sich ganz sicher.
    »Sanjeev-Onkel«, sagte sie sehr bemüht, höflich zu sein. »Ich verstehe nicht, wieso Sie nicht auch einmal Kredit gewähren. Sie kennen diese Menschen doch, ich kenne sie. Sie wissen, wo sie leben.«
    Er sah sie an wie eine Tochter, die Widerworte gab, und sagte dann sehr von oben herab: »Wenn du sie für so vertrauenswürdig hältst, dann gib du ihnen doch Kredit«, obwohl er genau wusste, dass sie kein Geld hatte, das sie verleihen konnte. Ihre Hände zitterten den ganzen restlichen Tag, während sie die Pillen abzählte. Am Abend dankte sie ihm dafür, dass er ihr die Stelle gegeben hatte,

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