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Der amerikanische Investor (German Edition)

Der amerikanische Investor (German Edition)

Titel: Der amerikanische Investor (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Peter Bremer
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dass er aus den Gedanken an diese Winde letzte Nacht eine Energie geschöpft hatte, die ihn heute am Morgen mit einer lange nicht mehr gekannten Zuversicht erwachen ließ, konnte sie doch schon gar nicht wissen.
    Erneut fuhr er sich über die nasse Stirn. Wie konnte er das nur wiedergutmachen? Er liebte doch seine Frau. Wenn sie es verlangte, würde er noch heute Abend in seinem Jackett und mit dem Seidentuch um den Hals zu der Wohnung der fast hundert Jahre alten Frau hinüberschlendern, um sich bei ihr für seine gestrigen Gedanken zu entschuldigen. Vielleicht war es sogar das, was er heute Abend seiner Frau bei einem großen Glas eiskalten Wassers vorschlagen sollte.
    Er sah zu seinem Bett hin. Das Treppenhaus des Nachbarhauses hatte er noch nie betreten. Ob er wohl klingeln musste? Vielleicht aber war die Eingangstür des Nachbarhauses, wie ihre auch, meistens nicht richtig eingeschnappt. Nur, warum sollte die fast hundert Jahre alte Frau ihn überhaupt in ihre Wohnung einlassen?
    Er seufzte tief auf. Schon der kürzeste Moment, den er durch die Tür in den Flur der Wohnung der fast hundert Jahre alten Frau spähen konnte, würde ihm genügen. Durch seine bisherigen vierzehn Umzüge hatte er sich doch einen geschärften Blick für Raumverhältnisse erworben. Zimmeraufteilung perfekt, Dielen vorhanden, nur abschleifen, Tapeten runter, anschließend ausgiebig lüften, bums! Fertig ist das neue Paradies. Keine Sekunde brauchte er, um das zu erfassen.
    Er schloss die Augen. Was hinderte ihn eigentlich daran, bei der fast hundert Jahre alten Frau mal kurz vorbeizuschauen? Bestimmt hatte sie schon lange keinen Besuch mehr bekommen und erst recht nicht von einem, aus ihrer Sicht, jugendlichen Herrn, in einem gepflegten, karierten Jackett und mit einem, aus ihrer Sicht, äußerst modischen Seidentuch um den Hals. Ach so, Sie wollen sich entschuldigen, junger Mann, na da kommen Sie doch erst mal herein. Es ist ein bisschen warm bei mir, ich habe es nämlich gern, wenn die Fenster geschlossen sind. Seit fünfzehn Jahren war ich nicht mehr vor der Tür. Trinken Sie denn einen Likör mit mir? Ob Sie es glauben oder nicht, junger Mann, über siebzig Jahre müssen jetzt vergangen sein, dass sich das letzte Mal eine so adrette Erscheinung wie Sie bei mir entschuldigt hat. Der junge Mann damals trug ebenfalls ein Seidentuch. Ach so, Sie wollen sich auch umsehen. Aber gern. Ich habe übrigens noch ein weiteres Zimmer, wenn ich Ihnen das noch zeigen darf, eigentlich nur ein halbes Zimmer, aber es ist der Schatz dieser Wohnung. Sehen Sie die Wand dort, junger Mann? Es geht eine Kraft von ihr aus, eine Kraft, die mich bisher am Leben gehalten hat und die mich auch noch eine Weile am Leben erhalten wird. Was gucken Sie denn so versteinert, junger Mann, und warum schnüren Sie sich das Seidentuch vom Hals? Bleiben Sie, wo Sie sind! Das dürfen Sie doch nicht tun, junger Mann, eine alte Frau, das dürfen Sie …
    Er riss die Augen auf und ließ die Arme sinken. Als sei die Welt um ihn herum aufgesogen worden, starrte er in die Helligkeit. Er musste aus diesem Zimmer heraus. Das war nicht sein Zimmer! Wo war der Hund? Der Schreibtisch! Tief holte er Luft. Dann erblickte er seine Füße, den Boden seines Arbeitszimmers. »Kühle«, stöhnte er, taumelte zum Fenster und zog es mit mächtigem Schwung auf. Ein Schwall warmer, gestauter Luft umfing ihn, und da er in die Knie sank und sich, den Kopf voran, an der Wand abstützte, war ihm, als sähe er sich, wie er von der Straße her, das Seidentuch schlaff in der Hand, in seinen Hauseingang bog, fühlte, während er mit schweren Schritten, den Blick zu Boden gerichtet, die Stufen zu seiner Wohnung hinaufschlich, die peinigenden Blicke seiner Nachbarn, die ihn aus ihren halb geöffneten Türen grußlos musterten, hörte, endlich oben in seiner Wohnung angekommen, wie die Kinder ihre Räume von innen her verschlossen, sah für einen kürzesten Moment in ihre Gesichter, die erschrocken die Luft anhielten, bis er an ihren Türen vorüber war, und als er nun ins Wohnzimmer trat, erhaschte er noch den Schatten seiner Frau, die ihm in den hinteren Flur enteilte, und während er sie jetzt mit immer schnelleren Schritten einzuholen trachtete, war ihm plötzlich, als sei er in gleißendes Licht gehüllt, durch das er jetzt, einen hohen Klang im Ohr, der immer schmerzender in seinem Kopf vibrierte, hindurchzustaksen suchte, einem Ende entgegen, wo es doch nicht einmal einen Anfang gab.
    Er warf den

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