Der amerikanische Investor (German Edition)
Kopf in den Nacken. Was hatte er denn eigentlich getan? Vermutlich war die fast hundert Jahre alte Frau ohnehin längst tot, verdurstet in der Wüste, hingemordet von einem Verrückten. Wahrscheinlich saß sie schon seit Stunden, das Kinn auf die Brust gesackt, still und friedlich in ihrem geblümten Sessel und wahrscheinlich wussten alle außer ihm schon längst, dass in der Wohnung der fast hundert Jahre alten Frau etwas geschehen war. Nichts entging dem vorherigen Hausmeister. Stand ein fremdes Fahrrad länger als zwei Tage auf dem Hof, klebte schon ein Zettel daran, und wenn jemand seine Blumen nicht regelmäßig, fast stündlich goss, wurde er auf der Straße auf deren kümmerlichen Zustand hingewiesen. Auf keinen Fall war dem vorherigen Hausmeister entgangen, dass gestern in der Wohnung der fast hundert Jahre alten Frau nirgends ein Licht gebrannt hatte. Wenn nicht schon in der Nacht, so doch vom frühen Morgen ab hatte er bereits bei der neuen Hausverwaltung Alarm geschlagen und vermutlich, vielleicht sogar gerade jetzt, just in diesem Augenblick, klopfte die Dame von der Hausverwaltung an die Tür der fast hundert Jahre alten Frau. Wollen Sie mich denn gar nicht einlassen, liebe alte Frau? Dann muss ich jetzt wohl selbst die Tür öffnen. Eins, zwei, drei, ich bin so frei. Huhu! Hallo! Ah, da sind Sie ja. Und was Sie für ein schönes Tuch um den Hals tragen. Wollen Sie mir denn gar nicht »Guten Tag« sagen? Sie gestatten doch, dass ich mich ein wenig umschaue. Puh, hier muss aber schleunigst gelüftet werden. Wie hausen Sie denn bloß, wenn ich Sie das fragen darf? Die Gardinen seit Jahren ungewaschen, ekelhaft, die Polster vollständig verstaubt, ekelhaft, das Geschirr schlierig, ekelhaft, die Teppiche bis zum Parkett durchgewetzt. Ich fass es ja gar nicht! Wie kann man denn so hausen? Haben Sie sich denn nie überlegt, wie schön Sie es hier haben könnten? Eine Schleifmaschine vier, fünf Tage in geübter Hand würde schon viel verwandeln. Ehrlich gesagt, alte Frau, kommen mir, je länger ich mich hier umschaue, tatsächlich Zweifel, ob Sie es überhaupt verdient haben, in dieser Wohnung zu leben. Regelrecht herzlos erscheint es mir, was Sie mit diesen Räumen veranstalten. Versetzen Sie sich doch mal in die Lage anderer Menschen. Eine ganze Familie könnte hier leben, glückliche Kinder könnten hier heranwachsen. Sehen Sie nur mal in dieses kleine Zimmer hinein. Da wäre sogar noch Raum für jemanden, der zu Hause arbeitet, einen Schriftsteller etwa, dem vom Morgen an bis in den späten Abend hinein die wunderlichsten Ideen wie Haare aus dem Kopf sprießen und der den Stift nur niederlegt, um mit seiner Frau eine stürmische Nacht zu verbringen. Ein Kinderbuch, da pflichten Sie mir doch bestimmt bei, scheint mir das einzige Vorhaben zu sein, das den ganzen Muff aus diesen Räumen blasen könnte, und eine Frau, die guter Hoffnung ist. Lustig steht sie auf der Leiter und spachtelt die Decke ab. Hin und wieder wirft sie einen schmachtenden Blick zu der Tür, hinter der ihr Mann sitzt und die sich jetzt öffnet. Oh wie strahlt sie da! Und wie stolz blickt sie auf seine Hand, die noch schnell ein paar Notizen in die Hosentasche stopft. Schon hebt er sie sanft von der Leiter. Arm in Arm treten sie ans Fenster und wippen verliebt im Takt. Hören Sie denn die Musik gar nicht, alte Frau? Öffnen Sie nie das Fenster, wenn die Musiker vor Ihrem Haus aufspielen? Blicken Sie nie zu den Musikern hinab, wenn diese mit bittenden Augen zu Ihnen hinaufschauen? Haben Sie denn gar kein Mitleid mit den Familien dieser Musiker? Wissen Sie überhaupt, welch beschwerliches Dasein diese Musiker führen, und sind Sie ihnen etwa noch nie durch die Straßen gefolgt? Das ist ja alles gar nicht zu glauben, und jetzt raus mit Ihnen! Verschwinden Sie aus dieser Wohnung!
Er öffnete die Augen und sah zum Himmel empor. Draußen spielte, vor dem benachbarten Café, mit bekannter Munterkeit die Kapelle auf. Er griff nach der Fensterbank, um sich nach oben zu ziehen, und ließ sie mit einem Seufzer wieder los. Was waren das für tapfere Menschen, die dort unten musizierten. Aus widrigsten Bedingungen sich hochkämpfend, zogen sie selbst bei größter Hitze unermüdlich mit ihren schweren Instrumenten durch die Straßen, während er sich hier am Boden seinem Schicksal ergab. Warum schloss er sich ihnen nicht einfach an? Aber würden sie ihn überhaupt aufnehmen? Würden sie seine Begleitung schätzen? Nur warum sollten sie allein
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