Der amerikanische Investor (German Edition)
sogar den Herrn am Schifferklavier, wenn der dann noch zugegen war, würde er fest in seine Arme schließen und ihnen allen würde er zuhören, seinen Blick aufmerksam von dem einen zum nächsten richten. Erzählt mir von euren Sorgen, Freunde. Ich kann das gut ertragen. Danach aber lasst uns bei einer Tasse heißen Tees wieder fröhlich sein. Ob ich auch einen Wein habe? Leider nein. Aber nehmt doch bitte die Nudelpäckchen mit. Eure wilden Frauen werden es euch danken. Kommt, Freunde, folgt mir in die Küche. Ein Glas Wasser ist bereits für jeden von uns kalt gestellt und ein paar Sorgen plagen mich übrigens auch. Nicht, dass ihr denkt, ich habe euch eingeladen, um euch etwas vorzujammern. Im Gegenteil. Selbst ganzjährig unter freiem Himmel zu nächtigen würde mir nichts ausmachen. Es ist doch aber so, dass man Offenheit nur mit Offenheit vergelten kann. Uns allen ist das Leben ins Gesicht gefahren und trotzdem stehen wir mannhaft beieinander. Und wisst ihr, warum, Freunde? Weil wir Künstler sind. Ich bin ein Künstler genau wie ihr und deshalb empfinde ich auch gerade keinerlei Scheu. Kann einer von euch vielleicht jemanden für mich erdrosseln? Warum erhebt ihr euch denn schon, Freunde? Ihr wollt doch nicht gehen! Es ist ein Kinderspiel, die Frau fast hundert Jahre alt, und ihr habt auch nicht weit zu laufen. Warum antwortet ihr mir denn nicht, Freunde, und weiß wirklich keiner von euch, wer eigentlich für die Begräbniskosten zuständig ist, wenn jemand keine Angehörigen mehr hat? Der Nachmieter doch wohl nicht! Bitte, Freunde, bleibt doch noch. Mein Sohn und meine Tochter müssen gleich nach Hause kommen. Dann wollen wir singen und tanzen und lustig sein. Nehmt wenigstens das Geld, das ich euch da hingelegt habe. So begeistert, das verspreche ich euch, werden meine beiden Kleinen morgen in der Schule von euch erzählen, dass die Lehrerin ihnen eine Eins ins Klassenbuch einträgt. Nur lasst mich bitte jetzt nicht allein. Das dürft ihr mir und den Kindern nicht antun.
Er riss die Augen auf und starrte wieder in den Himmel. Draußen verstummte mit einer letzten Fanfare die Musik. Warum gründete er nicht selbst eine Kapelle und zog einfach davon, mit dem vorherigen Hausmeister zum Beispiel, ein Duett vollkommener Trostlosigkeit, das wahres Mitleid hervorriefe. Wer gab ihm eigentlich weiterhin das Recht, seine sinnentleerten Tage hier in dieser Wohnung zu verbringen, und hätte der Tag nicht ein leichtes, schnelles Ende, wenn er sich jetzt aufrappelte, um sich seitlich aus dem Fenster auf die Straße mitten zwischen die Musiker zu stürzen? Ein paar Leute eilten vielleicht neugierig herbei, aber schon würde alles weitergehen. Was hielt ihn denn hier noch? Wenn er seiner Frau nur um ein weniges so zur Last fiel wie sich selbst, wäre dieser Schritt doch für alle segensreich. »Die Kinder«, murmelte er und spürte seinen Atem flattern. Aber was sahen die Kinder? Einen immer müden, verzweifelten Vater, dessen Anwesenheit ihn nur noch mehr verblassen ließ. War es da nicht besser zu sagen, dass Vater in den Wolken, zwischen Himmel und Erde, als emsiger Musikant arbeitete? Aber er spielte ja nicht mal ein Instrument und die Kinder waren nicht mehr klein und naiv. Vater ist emporgestiegen. Er hat jetzt sein Zimmer im Himmel und sitzt an einem leuchtenden Tisch. Euer Vater, Kinder, ist ein gleißender Nebel. Geduldig hockt er in einer Wolke und wartet auf das Flugzeug des amerikanischen Investors, um es an den nächsten Felsen zu geleiten. Euer Vater, Kinder, ist ein Schurke, aber einer, der von den folgenden Generationen hell besungen wird, der die Armen zu sich geladen und die Reichen verprügelt hat, der mit seiner Nagelschere durch ferne Länder zog, um in Schlangen und Krokodilen nach Vermissten zu suchen. Ein Mensch, Kinder, war euer Vater, der nichts so sehr fürchtete wie kaltes Wasser, der abends schon die Schulbrote für den nächsten Tag bereitete, ein Mensch, Kinder, der nachts meistens noch lange traurig und allein in seinem Sessel saß, ein Mensch, Kinder, der, wenn er sah, dass eure Schnürsenkel sich gelöst hatten, am liebsten die Feuerwehr zu Hilfe gerufen hätte, ein Mensch, Kinder, der am Ende die meiste Zeit am Boden seines Arbeitszimmers verbrachte und von Wänden träumte, die es auf dieser Welt nicht gab.
Er wandte den Kopf um und sah zu seinem Schreibtisch hinauf. Warum war ausgerechnet ihm so gar nichts Schurkisches ins Leben mitgegeben worden? Ein Schurke war doch ein Mensch, der
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