Der amerikanische Investor (German Edition)
würde sie, mit den Tränen kämpfend, in den Hof hinabschauen und dann, mit ihren zierlichen Fäusten, beginnen, seine Brust zu bearbeiten? War seine Frau vielleicht in den letzten Jahren schleichend, und ohne dass er es bemerkt hatte, von Bürgerlichkeit befallen worden, einer Bürgerlichkeit, die ihr fortan das Leben streng diktieren würde, und war nicht auch er schon längst von dieser Bürgerlichkeit erfasst? Würgte diese Bürgerlichkeit nicht schon seit langem auch an seiner Kehle und ließ ihn von Stunde zu Stunde ausgedörrter in den Tag blicken?
Er schnellte hoch, atmete tief durch und sah sich um. Zumindest seine Unordentlichkeit hatte er sich bewahrt. Vielleicht war es gerade diese Unordentlichkeit, aus der sich, wie aus einem Haufen Streichhölzer, etwas erbauen ließe. Aber was wollte er erbauen und war es schon bürgerlich, den Kindern etwas zu essen in die Schule mitzugeben? War es bürgerlich, auch von den Gästen zu verlangen, sich beim Pinkeln auf die Klobrille zu setzen? Sollte er sich womöglich dazu zwingen, vermehrt wieder im Stehen zu urinieren! Aber wie lange würde er das durchhalten, und war nicht allein die Tatsache, dass er mitten am helllichten Tag im Bett lag, das Gegenteil von Bürgerlichkeit? Genügte nicht die hartnäckige und unabänderliche Verlässlichkeit, mit der er seit Jahren schon kein Geld verdiente, sondern, einem Vögelchen im Neste gleich, immerzu mit aufgesperrtem Schnabel darauf wartete, dass seine Frau endlich von der Arbeit kam, ihn von allzu großer Bürgerlichkeit loszusprechen?
Er ließ sich auf das Kissen zurücksinken. Mit Bürgerlichkeit hatte das Dasein, das er führte, nichts gemein. Sein Dasein war das Dasein eines Rentners. Im Schnelldurchgang war er dahingealtert, ein unzufriedener, mürrischer Rentner, dem jede finanzielle Unterstützung versagt war, weil er sie sich an keinem Tag seines Lebens verdient hatte. Auch jetzt lag er doch schon wieder mit bleischweren Gliedern im Bett. War er überhaupt noch in der Lage, sich jemals wieder zu erheben, oder hoffte er insgeheim wirklich, dass seine Frau ihn heute, hier im Bett und bar jeder Fassade antreffen würde, einen plötzlich steinalten Mann, der undankbar zu ihr hinaufblickte und sie mit herrischer Geste in die Küche beorderte, damit sie ihm in der weißen Tasse mit dem kleinen Sprung am Rand einen Pfefferminztee aufbrühte?
Er sah zur Decke hinauf. Es war ja nicht nur so, dass er wie ein Rentner dahinvegetierte, sondern auch seine Gedanken hoben sich nicht mehr über das hinaus, was sonst höchstens noch eines hochbetagten, verkalkten Menschen würdig wäre. Allein die Messungen, die er jetzt täglich in der Wohnung vornahm, waren doch schon Indiz genug für eine immer schneller voranschreitende Vertrottelung. Dabei waren diese Messungen noch das Harmloseste. Schlimmer war es da schon, dass er jedes Mal, wenn seine Tochter das Bad verlassen hatte, hineinging, um abzuschätzen, wie viel Klopapier sie wieder verbraucht hatte. Schlimm war auch, wenn er sich plötzlich erhob und tief im Mülleimer nach dem Rest des Apfels fischte, den sein Sohn sich am Morgen vom Tisch genommen hatte, weil es ihn dann doch nicht loslassen wollte, ob sein Sohn diesen Apfel auch mit der gebührenden Redlichkeit zu Ende gegessen hatte. Auch dass er neulich den Rock seiner Frau, weil sie ihn tatsächlich höchstens einen Tag getragen haben konnte, aus dem Schmutzwäschekorb geangelt und ihn ihr wieder unter die sauberen Sachen gejubelt hatte, warf doch ein bedenkliches Licht auf seine Verfassung. Alle diese Handlungen, für die er sich zutiefst schämte, erschienen ihm wie Gebote, von denen er sich nur befreien konnte, indem er ihnen folgte. Wie sollte er zwischen allen diesen Geboten, die sich an manchen Tagen dicht aneinanderdrängten, überhaupt noch einen Gedanken fassen, zumal einen künstlerischen? Wo sollte dieser Gedanke herkommen, wenn ihn am Schreibtisch unaufhörlich die Frage marterte, ob es die richtige Entscheidung war, den Kaffee aus dieser und nicht erneut aus der gestrigen Tasse zu trinken, und wie lange würde er noch die Liebe zu seiner Frau und den Kindern aufrechterhalten können, wo ihm inzwischen fast jede ihrer Verrichtungen so widersinnig vorkam, dass er in ihrer Gegenwart immer häufiger die Augen schloss, um ihre Handlungen nicht zu tief auf sich wirken zu lassen? Wie lange würden sie dieses Leben noch gemeinsam ertragen und warum ließen sie das hier nicht alles hinter sich und eroberten sich
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