Der amerikanische Investor (German Edition)
an die Wohnungstür begleitet, ist ihr Blick noch immer ganz beseelt und zum Abschied flüstert sie uns einen seiner langen, wunderschönen Sätze zu, und während ich diesen Satz noch zu verstehen versuche, spüre ich gleichzeitig die Sorge, die meine Mutter immerzu umtreibt, sobald sie einen Blick zum Arbeitszimmer wirft. Mannshoch und schon bei der kleinsten Erschütterung schwankend, türmen sich mittlerweile die Notizbücher meines Vaters auf seinem Schreibtisch. Wir Kinder dürfen diesen Raum schon längst nicht mehr betreten, und wenn ich unsere Mutter frage, ob sie nicht auch fürchte, unser Vater könne irgendwann von all seinen Notizbüchern erschlagen werden, dann verneint sie zwar entschieden und lächelt sogar dabei, aber dieses Lächeln ist gezwungen und ihre Augen, Frau Lehrerin, weichen meinem Blick zudem ängstlich aus.
Er sah zur Decke hinauf. Vielleicht sollte er sich dieses Jahr zu Weihnachten, eigens für seine Notizbücher, von seiner Frau ein Regal wünschen, ein helles und hohes Regal, das er neben seinem Schreibtisch aufbauen und sicher an die Wand anschrauben würde. So ein Regal würde ihn doch noch zusätzlich anspornen, und zu sehen, wie es sich allmählich füllte, wie er nach einiger Zeit die Notizbücher zur Seite pressen müsste, damit ein neues noch Platz fände, wäre ihm eine ewige Freude. Unten würde er die großen Notizbücher einordnen, die wichtigen, zu denen er sich in der Nacht, wenn alle längst schliefen, hinunterbeugen würde, und oben würde er die kleinen Notizbücher unterbringen, die er fortan immer bei sich tragen und die er auf der Straße, im Café oder in der Mieterberatung plötzlich hervorziehen würde, um sie, an eine Hauswand gelehnt, über eine Motorhaube gebückt oder morgens in aller Frühe mit dem Hund im Park, bei praller Sonne oder eisiger Kälte, mit seiner hastigen Schrift zu füllen. Die Kinder wären bestimmt froh, wenn er ihnen im November bereits zuflüsterte, dass er sich von ihnen zu Weihnachten jeweils ein Notizbuch wünschte.
Er sah zur Glühbirne und schloss die Augen. Würden sie überhaupt noch mal ein gemeinsames Weihnachten in dieser Wohnung feiern?
Er ballte die Fäuste. Nein! Sie ließen sich nicht vertreiben. Selbst unter Androhung rohster Gewalt würden sie nicht aus diesen Räumen weichen. Mit einer Axt und einer ganzen Armee im Schlepptau könnte, allen voran, die Dame von der Hausverwaltung in die Wohnung stürmen, mit Pistolen um sich knallen oder ihm mit der Peitsche eins überziehen, er würde an seinem Schreibtisch sitzen bleiben. Bis er den Brief an den amerikanischen Investor beendet hätte, würde er an seinem Schreibtisch sitzen bleiben! Seelenruhig würde er ein Notizbuch nach dem anderen füllen und es in sein neues Regal stellen. Von seinem Trotz würde er ihm schreiben, von seiner Frau, den Kindern und dem Hund und dass ihr Leben, das sie hier verwirklichten, in Wahrheit ein Projekt sei: »Wohnen unter widrigen Bedingungen«, dass aber dieses Wohnen jung hielt, dass nur der Spießer mürbe vergeht, der edle Mensch aber nicht zu brechen sei, dass er, der amerikanische Investor, viel von ihm lernen könne und dass es etwas unmissverständlich anderes sei, jemanden zu lieben oder jemanden zu ficken.
Er fuhr in die Höhe. Hatte er nicht, bevor er sich ins Bett gelegt hatte, für diesen Brief bereits eine Idee gehabt und warum kam sie ihm nicht wieder in den Sinn? Sie konnte doch nicht verschwunden sein!
Er sah zum Schreibtisch hin. Dann ließ er den Blick auf seine Hände hinabsinken und schüttelte den Kopf. War das wirklich seine Idee gewesen? Einen Brief, den der amerikanische Investor sich selbst schreiben sollte? Aber warum sollte der amerikanische Investor das tun! Das konnte doch wohl kaum seine Idee gewesen sein! Was würde seine Frau wohl zu dieser Idee sagen? Wahrscheinlich würde sie, wenn er ihr abends selbstgefällig im Sessel mit glühenden Augen diese Idee erläuterte, ihn auf der Stelle für bekloppt erklären. Niemals durfte sie von dieser Idee erfahren! Diese Idee würde doch alles zwischen ihnen nur noch mehr komplizieren. Schon jetzt war er sich doch über Tage hinweg nicht mehr sicher, was seine Frau noch von ihm hielt. Das war es, was er in Wirklichkeit ansprechen musste. Mit ein paar großen Gläsern eiskalten Wassers würde er sich gleich heute Abend Mut antrinken und ihr dann mit einem forschen und wachen Blick begegnen. Jede Kritik von ihr würde er sich zu eigen machen und geloben, zukünftig
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