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Der Amokläufer

Der Amokläufer

Titel: Der Amokläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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kühlen für ein kleines Stück Geld, das immer zu gering ist für das Ungeheure, das sie geben mit ihrem ewigen Bereitsein, mit dem großen Geschenk ihrer menschlichen Gegenwart.
    Neben mir setzte dröhnend das Orchestrion des Karussells wieder ein. Es war die letzte Runde, die letzte Fanfare des kreisenden Lichts in das Dunkel hinaus, ehe der Sonntag in die dumpfe Woche verging. Aber niemand kam mehr, leer rannten die Pferde in ihrem irrsinnigen Kreis, schon scharrte und zählte an der Kasse die übermüdete Frau die Lösung des Tages zusammen, und der Laufbursche kam mit den Haken, bereit, nach dieser letzten Runde knatternd die Rolläden über die Bude herabzulassen. Nur ich, ich allein, stand nochimmer da, an den Pfosten gelehnt, und sah hinaus auf den leeren Platz, wo nur diese fledermausflatternden Gestalten strichen, suchend wie ich, wartend wie ich, und doch den undurchdringlichen Raum von Fremdheit zwischeneinander. Aber jetzt mußte eine von ihnen mich bemerkt haben, denn sie schob sich langsam her, ganz nah sah ich sie unter dem gesenkten Blick: ein kleines, verkrüppeltes, rachitisches Wesen ohne Hut, mit einem geschmacklos aufgeputzten Fähnchen von Kleid, unter dem abgetragene Ballschuhe vorlugten, das Ganze wohl allmählich bei Hökerinnen oder einem Trödler zusammengekauft und seitdem verscheuert, zerdrückt vom Regen oder irgendwo bei einem schmutzigen Abenteuer im Gras. Sie schmeichelte sich heran, blieb neben mir stehen, den Blick wie eine Angel spitz herwerfend und ein einladendes Lächeln über den schlechten Zähnen. Mir blieb der Atem stocken. Ich konnte mich nicht rühren, nicht sie ansehen und doch mich nicht fortreißen: wie in einer Hypnose spürte ich, daß da ein Mensch um mich begehrlich herumstrich, jemand um mich warb, daß ich endlich diese gräßliche Einsamkeit, dies quälende Ausgestoßensein mit einem Wort, einer Geste bloß wegschleudern könnte. Aber ich vermochte mich nicht zu rühren, hölzern wie der Balken, an dem ich lehnte, und in einer Art wollüstiger Ohnmacht empfand ich nur immer – während die Melodie des Karussells schon müde wegtaumelte – die nahe Gegenwart, diesen Willen, der um mich warb, und schloß die Augen für einen Augenblick, um ganz dieses magnetische Angezogensein irgendeines Menschlichen aus dem Dunkel der Welt mich überfluten zu fühlen.
    Das Karussell hielt inne, die walzernde Melodie erstickte mit einem letzten stöhnenden Laut. Ich schlug die Augen auf und sah gerade noch, wie die Gestalt neben mir sich wegwandte. Offenbar war es ihr zu langwellig, hier neben einem hölzern Dastehenden zu warten. Ich erschrak. Mir wurde plötzlich ganz kalt. Warum hatte ich sie fortgehen lassen, den einzigen Menschen dieser phantastischen Nacht, der mir entgegengekommen, der mir aufgetan war? Hinter mir löschten die Lichter, prasselnd knatterten die Rollbalken herab. Es war zu Ende. Und plötzlich – ach, wie mir selbst diesen heißen, diesen jäh aufspringenden Gischt schildern? – plötzlich – es kam so jäh, so heiß, so rot, als ob mir eine Ader in der Brust geplatzt wäre – plötzlich brach aus mir, dem stolzen, dem hochmütigen, ganz in kühler, gesellschaftlicher Würde verschanzten Menschen wie ein stummes Gebet, wie ein Krampf, wie ein Schrei, der kindische und mir doch so ungeheure Wunsch, diese kleine, schmutzige, rachitische Hure möchte nur noch einmal den Kopf wenden, damit ich zu ihr sprechen könnte. Denn ihr nachzugehen war ich nicht zu stolz – mein Stolz war zerstampft, zertreten, weggeschwemmt von ganz neuen Gefühlen aber zu schwach, zu ratlos. Und so stand ich da, zitternd und durchwühlt, hier allein an dem Marterpfosten der Dunkelheit, wartend wie ich nie gewartet hatte seit meinen Knabenjahren, wie ich nur einmal an einem abendlichen Fenster gestanden, als eine fremde Frau langsam sich auszukleiden begann und immer zögerte und verweilte in ihrer ahnungslosen Entblößung – ich stand, zu Gott aufschreiend mit irgendeiner mir selbst unbekannten Stimmeum das Wunder, dieses krüppelige Ding, dieser letzte Abhub Menschheit möge es noch einmal mit mir versuchen, noch einmal den Blick rückwenden zu mir.
    Und – sie wandte sich. Einmal noch, ganz mechanisch blickte sie zurück. Aber so stark mußte mein Aufzucken, das Vorspringen meines gespannten Gefühls in dem Blick gewesen sein, daß sie beobachtend stehen blieb. Sie wippte noch einmal halb herum, sah mich durch das Dunkel an, lächelte und winkte mit dem Kopf einladend

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