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Der Amokläufer

Der Amokläufer

Titel: Der Amokläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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hinüber gegen die verschattete Seite des Platzes. Und endlich fühlte ich den entsetzlichen Bann der Starre in mir weichen. Ich konnte mich wieder regen und nickte ihr bejahend zu.
    Der unsichtbare Pakt war geschlossen. Nun ging sie voraus über den dämmerigen Platz, von Zeit zu Zeit sich umwendend, ob ich ihr nachkäme. Und ich folgte: das Blei war von meinen Knien gefallen, ich konnte wieder die Füße regen. Magnetisch stieß es mich nach, ich ging nicht bewußt, sondern strömte gleichsam, von geheimnisvoller Macht gezogen, hinter ihr her. Im Dunkel der Gasse zwischen den Buden verlangsamte sie den Schritt. Nun stand ich neben ihr.
    Sie sah mich einige Sekunden an, prüfend und mißtrauisch: etwas machte sie unsicher. Offenbar war ihr mein seltsam scheues Dastehen, der Kontrast des Ortes und meiner Eleganz, irgendwie verdächtig. Sie blickte sich mehrmals um, zögerte. Dann sagte sie in die Verlängerung der Gasse deutend, die schwarz wie eine Bergwerksschlucht war: »Gehn wir dort hinüber. Hinter dem Zirkus ist es ganz dunkel.«
    Ich konnte nicht antworten. Das entsetzlich Gemeine dieser Begegnung betäubte mich. Am liebsten hätte ich mich irgendwie losgerissen, mit einem Stück Geld, mit einer Ausrede freigekauft, aber mein Wille hatte keine Macht mehr über mich. Wie auf einer Rodel war mir, wenn man an einer Kurve schleudernd, mit rasender Geschwindigkeit einen steilen Schneehang hinabsaust und das Gefühl der Todesangst sich irgendwie wollüstig mit dem Rausch der Geschwindigkeit mengt und man, statt zu bremsen, sich mit einer taumelnden und doch bewußten Schwäche willenlos an den Sturz hingibt. Ich konnte nicht mehr zurück und wollte vielleicht gar nicht mehr, und jetzt, wie sie vertraulich sich an mich drückte, faßte ich unwillkürlich ihren Arm. Es war ein ganz magerer Arm, nicht der Arm einer Frau, sondern wie der eines zurückgebliebenen skrofulösen Kindes, und kaum daß ich ihn durch das dünne Mäntelchen fühlte, überkam mich mitten in dem gespannten Empfinden ein ganz weiches, flutendes Mitleid mit diesem erbärmlichen, zertretenen Stück Leben, das diese Nacht gegen mich gespült. Und unwillkürlich liebkosten meine Finger diese schwachen, kränklichen Gelenke so rein, so ehrfürchtig, wie ich noch nie eine Frau berührt. Wir überquerten eine matt erleuchtete Straße und traten in ein kleines Gehölz, wo wuchtige Baumkronen ein dumpfes, übelriechendes Dunkel fest zusammenhielten. In diesem Augenblick merkte ich, obwohl man kaum mehr einen Umriß bemerken konnte, daß sie ganz vorsichtig an meinem Arm sich umwandte und einige Schritte später noch ein zweitesmal. Und seltsam: während ich gleichsam in einer Betäubung in das schmutzigeAbenteuer hinabglitt, waren doch meine Sinne furchtbar wach und funkelnd. Mit einer Hellsichtigkeit, der nichts entging, die jede Regung wissend bis in sich hineinriß, merkte ich, daß rückwärts am Saum des überquerten Pfades schattenhaft uns etwas nachglitt, und mir war es, als hörte ich einen schleichenden Schritt. Und plötzlich – wie ein Blitz eine Landschaft prasselnd weiß überspringt – ahnte, wußte ich alles: daß ich hier in eine Falle gelockt werden sollte, daß die Zuhälter dieser Hure hinter uns lauerten und sie mich im Dunkel an eine verabredete Stelle zog, wo ich ihre Beute werden sollte. Mit einer überirdischen Klarheit, wie sie nur die zusammengepreßten Sekunden zwischen Tod und Leben haben, sah ich alles, überlegte ich jede Möglichkeit. Noch war es Zeit zu entkommen, die Hauptstraße mußte nahe sein, denn ich hörte die elektrische Tramway dort auf den Schienen rattern, ein Schrei, ein pfiff konnte Leute herbeirufen: in scharf umrissenen Bildern zuckten alle Möglichkeiten der Flucht, der Rettung in mir auf.
    Aber seltsam – diese ausschreckende Erkenntnis kühlte nicht, sondern hitzte nur. Ich kann mir heute in einem wachen Augenblick, im klaren Licht eines herbstlichen Tages das Absurde meines Tuns selbst nicht ganz erklären: ich wußte, wußte sofort mit jeder Fiber meines Wesens, daß ich unnötig in eine Gefahr ging, aber wie ein seiner Wahnsinn rieselte mir das Vorgefühl durch die Nerven. Ich wußte ein Widerliches, vielleicht Tödliches voraus, ich zitterte vor Ekel, hier irgendwie in ein Verbrechen, in ein gemeines, schmutziges Erleben gedrängt zu sein, aber gerade für die nie gekannte, niegeahnte Lebenstrunkenheit, die mich betäubend überströmte, war selbst der Tod noch eine finstere Neugier. Etwas – war

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