Der andere Tod
jemandem, dem ich vertrauen konnte. Und der mir traute. Und da gab es im Moment nur einen.
»Hürli.«
»Ich bin’s noch mal.«
»Sie haben sich also doch entschlossen hierzubleiben.«
»Ganz im Gegenteil.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich brauche Ihren Wagen.«
»Wie bitte?«
»Ich glaube, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis die Polizei mich sucht.«
»Ach so, wenn’s weiter nichts ist. Und dafür brauchenSie rasch einmal mein Auto, gewissermaßen als Fluchtfahrzeug.«
Hürli klang sarkastisch. Aber nicht eben ablehnend.
»Passen Sie auf: Ich werde Ihnen das alles bezahlen. Ich schwöre es! Übermorgen bin ich wieder da. Und dann kriegen Sie Ihren Wagen wieder und Ihr Honorar. Und eine saftige Einmalzahlung als Anerkennung Ihres Vertrauens.«
»Jetzt versuchen Sie, mich auch noch durch Geld gefügig zu machen.«
»Richtig erkannt.«
»Und was ist, wenn Sie auf Nimmerwiedersehen verschwinden? Seien Sie mir nicht böse, aber Ihre Kreditwürdigkeit lässt derzeit doch eher zu wünschen übrig. Wer vertraut schon einem Mann, der in Verdacht steht, seiner Frau ins Reich der Träume verholfen zu haben, der sich an wenig oder nichts erinnert, dafür aber höchstwahrscheinlich jahrelang für eine Verbrecherorganisation radioaktives Teufelszeug über die Grenze gekarrt hat.«
Auf einmal wusste ich nicht mehr, was ich sagen sollte. Hürli hatte recht. Und mir war in diesem Moment so richtig klar geworden, dass er einiges über mich wusste, was besser niemand hätte wissen sollen. Und dennoch hatte ich immer noch das Gefühl, dass er auf meiner Seite war.
»Ich komme jetzt nicht an mein Geld. Sonst würde ich Ihnen alles im Voraus bezahlen.«
Hürli sagte nichts. Als ich schon glaubte, die Verbindung sei längst unterbrochen, sagte er: »Ich weiß nicht, warum ich das tue, ich habe eigentlich keinen Grund. Vielleicht den einen und einzigen, dass ich Sie – obwohl ich’s eigentlich besser wissen sollte – wenn nicht für einen anständigen, so doch für einen geläuterten Kerl halte! Kommen Sie zu mir ins Antiquariat. Ich warte dort auf Sie.«
»Danke.«
»Schon gut. Ich werd’s bestimmt bereuen.«
Und so nahm ich die Wagenschlüssel für einen Volvo Variant entgegen, der wahrscheinlich in den frühen Achtzigern seine Glanzzeit gehabt hatte. Ich verkniff mir eine spitze Bemerkung über Hürlis Faible für Oldtimer. Zum Abschied gab er mir zwei Dinge mit auf den Weg: zum einen, dass der Volvo-Motor unverwüstlich sei und bereits 327 000 km hinter sich gebracht habe; zum anderen riet er mir davon ab, ab jetzt noch mal mit meinem Handy zu telefonieren. Ich verstand nicht sofort. Hürli erklärte: »Sie wollen doch nicht durch eine GP S-Fahndung geschnappt werden!«
Erneut bedankte ich mich, stieg ein und ließ mich in einen durchgesessenen Ledersitz fallen. Ich drehte den Zündschlüssel und der Diesel tuckerte los. Im Rückspiegel sah ich Hürlis Gestalt auf den roten Teppichstufen kleiner werden. Er winkte verstohlen.
Ich fuhr nach Österreich, dann auf die Autobahn, die durch den Pfänder nach Deutschland führte. Bereits nach einer Stunde überkam mich eine bleierne Müdigkeit. Um wach zu bleiben, schaltete ich das Radio ein und suchte ständig neue Sender. Was ich jetzt benötigte, war laute Rockmusik, die möglichst heftig in den Ohren schmerzte. Nur nicht einschlafen.
Auf schwäbische Hügel folgten bayerische. Ich passierte Hunderte von Autobahnbrücken. Eine sah aus wie die andere. Als ob ich im Kreis führe. Strommasten ragten wie dunkle Riesen aus den Wäldern hervor. Ein süßlicher Duft drang durch die geschlossenen Scheiben. Ich schaltete die Lüftung ab und kurbelte das Fenster herunter. Reifendes Getreide.
Die Abfahrt nach Hof kam und ich spürte, wie meine Augendeckel trotz der lauten Musik unsäglich schwer wurden. Sie spielten gerade ›Highway to hell‹. Plötzlich knackste es derb in den Lautsprechern.
Ich schreckte auf.
Ein gelangweilter Moderator erklärte: »Meine Damen und Herren, wir unterbrechen unser Programm für eine Fahndungsmeldung von Interpol. Gesucht wird der 4 8-jährige Max Winther aus Bregenz/Vorarlberg. Er ist 1,85 m groß und kräftig gebaut, hat dunkelbraunes gelocktes Haar und blaue Augen. Er spricht akzentfreies Hochdeutsch und ist möglicherweise zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Der Mann wird des versuchten Mordes an seiner Frau verdächtigt. Die Fahndung erstreckt sich mittlerweile auch auf die angrenzenden
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