Der andere Tod
angespannt. Ihr Kopf war steif geradeaus gerichtet, so, als würde sie meinem Blick bewusst ausweichen.
Jaro schenkte anschließend Zuzana und sich selbst ein. Auf einmal erschienen mir auch Jaros und Zuzanas Mienen künstlich oder erzwungen fröhlich. Ich suchte auf dem Tisch nach meinem Weinglas, fand keines und deutete lachend auf mein Wasserglas: »Das nenne ich eine Wiedersehensparty. Mich wollt ihr wohl auf dem Trockenen lassen!«
Ein seltsames Schweigen legte sich über unsere Runde. Zuzana, die bis eben noch von den Vorzügen des italienischen Feinkostgeschäfts um die Ecke geschwärmt hatte, rieb verlegen ihre Finger auf dem Tischtuch hin und her. Jaro stellte betont langsam die Flasche auf der Anrichte ab.
Ich hörte Anouk Luft holen: »Nein, aber ich habe Jaro gesagt«, und dabei sah sie Jaro an, »dass du im Moment noch Medikamente nimmst, die sich mit Alkohol nicht vertragen.«
Jaro sagte tonlos: »Na ja«, und Zuzanas Mund öffnete sich zu einem gequälten Lächeln. Ich sah von einem zum anderen. Was genau hatten sie mir gerade gemeinschaftlich verschwiegen?
An jenem Abend bei Jaro und Zuzana war ich von einer seltsamen Unruhe erfasst worden. Was enthielten sie mir vor? Was würde ich erfahren, wenn ich nachfragte oder gar in meine Heimat – also nach Deutschland – zurückkehrte? Ich glaubte, eine Ahnung zu haben. Jedoch war ich hier in Prag noch umgeben von einer Art transparenter Mauer, die mich in scheinbarer Sicherheit wiegte.
Es dauerte ein paar Tage, bis ich den Mut fasste und bei Jaro anrief. »Ich muss dich sprechen. Wann hast du Zeit?«
Er druckste herum, er habe Termine. Ich drängte ihn zu einem kurzen Treffen um die Mittagszeit im Café Slavia in der Národní Třída.
Als ich das Café betrat, war Jaro schon da. Vor seiner hünenhaften Gestalt wirkten die Bistrotische noch zierlicher, die braunen Holzstühle noch zerbrechlicher. Jaro lächelte. Er wich meinem Blick aus, als ich mich zu ihm setzte. Die Kellnerin, eine junge Frau mit schwarzen Locken, nahm meine Bestellung auf.
»Du weißt, was ich dich fragen möchte?«, begann ich das Gespräch.
»Ich …ähm … habe keine Ahnung.« Er räusperte sich.
»Was war los an dem Abend: Warum habt ihr mich mit dem Wein ausgespart?« Ich fixierte Jaro und er wand sich unter meinem Blick.
»Anouk sagte es doch … wegen deiner Medikamente.«
»Das war doch nicht alles.«
»Wie kommst du darauf?«
Jaro rückte die Speisekarte zurecht und platzierte Zuckerstreuer und Kerze exakt in der Tischmitte. Die Kellnerin kam und stellte meinen Espresso vor mir ab.
Ich wurde wütend. »Wie ich darauf komme! Ich habe vielleicht ein Problem mit ein paar Teilen meines Erinnerungsvermögens, aber mit meiner Wahrnehmung ist noch alles in bester Ordnung!«
Jaro schaute mich an wie ein betretener Bär aus einem Comic-Strip, der etwas verkehrt gemacht hatte.
Das brachte mich nur noch mehr auf die Palme. »Warum sagst du mir nicht einfach, was los ist?«
Er hob zu sprechen an, stockte, setzte erneut an und verstummte wieder.
Ich hätte ihn am liebsten mit meinem Blick festgenagelt. »Jaro, ich versuche, dort weiterzugehen, wo ich vor zwei Jahren stehengeblieben bin. Ich erinnere mich an manches, aber an vieles auch nicht. Und da wäre es doch hilfreich, wenn ein Freund mir einfach die Wahrheit sagen würde. Oder glaubst du, es ist angenehmer, mit dunklen Ahnungen zu leben, die dir nachts aus allen Zimmerecken entgegenkommen?« Meine Stimme war vor Erregung immer lauter geworden. Eine Frau, die mit ihrer kleinen Tochter am Nebentisch saß, sah mich empört an.
Jaro sprach jetzt betont leise. »Anouk hat mich gebeten, nichts zu sagen.«
»Wie bitte?«
»Sie rief an, vor unserem Dinner an jenem Abend. Sie bat mich und Zuzana, dir nichts zu sagen. Weil es ja der Vergangenheit angehört.«
In diesem Augenblick glaubte ich zu verstehen, wie man sich fühlte, wenn man zu Stein wurde. Ich war von Verrat umgeben, von wohlmeinendem Verrat, der dennoch Verrat blieb.
Wie aus weiter Ferne hörte ich Jaros Stimme: »Ich habe es ihr versprechen müssen.«
Eine Weile lang sprach keiner von uns ein Wort, dann sagte ich: »Du wirst dieses Versprechen nicht halten können.«
Jaro sah mich entgeistert an: »Das
muss
ich. Sie hat gesagt, du warst in psychotherapeutischer Behandlung. Ich will dir auf keinen Fall schaden.«
Die Frau vom Nebentisch stand auf und dirigierte ihre kleine Tochter an einen Platz am anderen Ende des Raumes.
Ich beugte mich
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