Der andere Tod
er sich vor, sah mich konzentriert, ja beschwörend an und wiederholte: »Lass es ruhen! Nimm dieses zweite Leben, das dir geschenkt wurde, und lebe.«
Ich weiß noch gut, wie ich vom Tisch aufstand und Jaro mich vergebens am Arm zu fassen versuchte.
Ich marschierte aus dem Café.
Jaro rief mir etwas hinterher, das ich nicht verstehen
wollte.
Ich blickte lediglich einmal kurz zurück. Sein Gesicht formte Grimassen wie in einer Szene aus einem Stummfilm. Der Mund bewegte sich ton- und sinnlos. Ein armseliger Fisch. Das nächste Bild war schon ein anderes.
Der Himmel war blau – unpassend heiter für meine innere Unruhe. Ich schlich durch die Straßen, wie betäubt, in Gedanken nur bei
einer
Sache. Wie war es bloß möglich, dass ein Mensch ein Mensch blieb, dass er wusste, wie Pizza schmeckte und Gulasch, dass er sich an die Prager Balkonrede von Hans-Dietrich Genscher erinnerte und daran, dass wir in Prag ein Apartment hatten. In einem Haus, das einen stillgelegten Fahrstuhl besaß. Dass das Jahr 365 Tage hatte und es Schaltjahre gab. Doch dass er sich
nicht
daran erinnern konnte, Freunde namens Jaro und Zuzana gehabt zu haben. Und auch nicht daran, seine Frau geschlagen zu haben. Was hatte Anouk noch alles mit mir durchmachen müssen?
Vor einem Blumenladen prallte ich in einen Mann, der auf dem Bürgersteig Pflanzen wässerte. Ich sah, wie seinMund ein O formte und er mir irgendetwas hinterherrief. Kein Ton. Nicht für meine Ohren. Noch so eine Stummfilmfigur.
Was hatte Anouk mir alles verschwiegen, als sie im weißen Zimmer der Rosenstein Clinic mein Leben für mich zusammenfasste? Wie viel hatte sie mir – um meinetwillen –
nicht
erzählt?
Ich beschleunigte mein Tempo. Von den Passanten nahm ich nur Silhouetten wahr.
Vor meinem inneren Auge stand immer die gleiche angehaltene Filmszene: vier Menschen, angetrunken in unserem Wohnzimmer. Jeder hält ein Glas in der Hand. Eine Flasche Tequila steht auf dem Tisch, daneben eine Karaffe mit Wasser und ein Schälchen mit Zitronenschnitzen. Soweit das Standbild.
Ich strengte mich an, den Film weiterlaufen zu lassen. Doch die Gesichter blieben starr, ihre Mienen unbeweglich. Sie verharrten in immer gleicher Pose am Tisch. So sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte mich nicht erinnern. Mein Verstand blockierte.
Ich rannte schneller. Schweiß lief mir in die Augen. Mein Atem ging in Keuchen über, aber ich konnte nicht stehen bleiben. Ich konnte nicht anhalten, bevor ich den Film nicht zum Laufen gebracht hätte. Ich wollte, ich
musste
die Szene sehen. Wie mochte sich das alles abgespielt haben? Die erhobene Hand, der Schlag, der Fall, der Aufprall. Anouk.
Geliebte Anouk.
Mir war, als ginge es um mein Leben.
So war es. Es ging buchstäblich um mein Leben. Ich musste das, was in meiner Erinnerung davon übrig war, zusammentragen. Musste die Fragmente, die sich bei dem Brand wie die Splitter einer zerborstenen Scheibe in alle Richtungen verteilt hatten, wiederfinden und zusammensetzen.So lange, bis die Scheibe wieder ganz war. Wie scharf und spitz die Splitter, die ich entdecken würde, auch sein mochten. Ich würde sie mir ansehen, jeden einzelnen. Und wenn ich mir dabei die Finger zerschneiden würde.
Ich musste nach Deutschland zurückkehren.
Durch die geschlossene Wohnungstür drangen die langsamen Takte von Saties ›Lent et douloureux‹
.
Es war, als habe Satie jeden Tastenanschlag für sich gesetzt, um den Schmerz, der von jedem einzelnen ausging, ein wenig hinauszuzögern, um diesem Schmerz und dieser Traurigkeit noch eine kurze Weile nachzusinnen und sie dann loszulassen.
Anouk lag auf dem Sofa. Im Gegenlicht hob sich ihr Profil deutlich vom Hintergrund ab. Das Licht warf einen weichen und milchigen Schimmer auf ihre Haut. Es war das marmorne, gedämpfte Weiß einer Statue, unwirklich in jenem Moment. So, wie auch ihre Schönheit unwirklich war. Anouk hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt, ihre Augen waren weit geöffnet. Sie trug einen Pullover, dessen Gewebe durchbrochen war. Es erinnerte mich an die Waben eines Bienenstocks und war so dünn, dass sich ihr Unterhemd und auch ihre Brustwarzen deutlich darunter abzeichneten.
Vielleicht war es die Musik, die sich wie ein Trauerflor über alles legte und meine Entschlossenheit dämpfte. Viel eher aber war es der Ausdruck in ihren Augen, so starr und verloren, der mich zögern ließ. Ihr jetzt sagen, dass ich nach Deutschland zurückkehren wollte, so bald wie möglich, am
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