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Der andere Tod

Der andere Tod

Titel: Der andere Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Jonuleit
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besten morgen schon?
    Das ›Lent et douloureux‹ verklang. Es war die letzte Aufnahme auf der CD und nun erfüllte Stille den Raum.Anouk machte eine leichte, kaum wahrnehmbare Bewegung mit dem Kopf, sah mich aber noch immer nicht. Und in diesem Moment entdeckte ich die Tränen, die zwei glänzende Bahnen auf ihre Wangen gezeichnet hatten.
    Ich schloss die Haustür und ging auf Anouk zu. Sie musste mich bemerkt haben, doch sie blieb reglos. Erst als ich vor ihr stand, sagte sie, ohne den Blick von dem abzuwenden, was sie in ihrem Inneren sah: »Jaro hat es dir erzählt.«
    Ich reagierte nicht.
    Anouks Augen glitten zu mir, tastend, und blieben irgendwo an meinem Hals, an meiner Brust hängen. Ich beugte mich über ihr Gesicht. Sie kam mir winzig vor. Zitternd flüsterte ich: »Warum hast du mir das verschwiegen?«
    Auf einmal sah sie mich direkt an und hielt den Blick fest auf mich gerichtet. Die Intensität und das plötzliche Leuchten in ihren Augen jagten mir Schauer über den Rücken.
    »Weil es nicht wichtig ist«, antwortete sie und zog mich zu sich hinunter. Sie hielt mein Gesicht in beiden Händen, fuhr mit einem Finger über die Narbe, den farblosen rechten Rand meiner Lippen. Dann bedeckte sie es mit Küssen.
     
    Es war das letzte Mal, dass wir uns dort liebten. In unserem selbst geschaffenen Wolkenkuckucksheim in der Stadt der hundert Türme.
     
    Zwei Tage später saßen wir im Flugzeug nach Zürich.

Mit zahllosen Händen
    greift die Zeit
    nach dem
    Geflimmer aus
    Blumen und Tropfen
    nach Hitze und Eis
    nach Menschen
    auf der Flucht
    vor dem Nichts
    ROSE AUSLÄNDER

Irrlichterhaus
    Genauer gesagt war es eine Rückkehr nach Österreich. Denn unser Haus lag an der Grenze zu Deutschland, über der Stadt Bregenz, auf halber Höhe eines Berges, der »Pfän der « heißt. Von dort oben musste man eine prächtige Aussicht auf den Bodensee haben. Ich brannte darauf, alles, was ich bisher nur von Anouks Fotos kannte, kennenlernen zu können. Eine seltsame Art, nach Hause zurückzukehren.
     
    Ich wollte mein Zuhause voller Zuversicht betreten. Ich wollte die Hoffnung herbeizwingen, dass beim Anblick des Hauses alles wieder da sein würde, die Erinnerung, die Gefühle, die man für sein Zuhause hat und damit die Sicherheit. Die Sicherheit eines Alltags, in den man schlüpft wie in einen bequemen, uralten Mantel. Doch die Klauen der Furcht schlossen sich enger um mein Herz, als wir in die kleine Straße einbogen. Anouk sagte, dieser Weg führe direkt zu unserem Haus. Es ging in engen Serpentinen den Berg hoch. Weit unten lag der See wie mit Silber übergossen.
    Schon nach ein paar Kehren sah man das Haus. Ein typisches Vorarlberger Bauwerk, innovativ, klar in seiner Struktur und hypermodern. Es sah nach Exklusivität aus. Und nach Geld.
    Anouk hatte mir erzählt, dass ich darauf bestanden hätte, ein Haus am Berg zu bauen. Von Bregenz nach Lindau, wo meine Firma ansässig war, waren es nur wenige Minuten mit dem Auto.
    Wir mussten ja förmlich im Geld schwimmen. Der Gedanke befremdete mich irgendwie. Wie war es möglich, dass ich, der ich nun zerfressen war von Selbstzweifeln, unsicher bei jedem Schritt, so offensichtlich einmal überaus erfolgreich gewesen war? Über welche Fähigkeiten hatte ich verfügt? Und – das war die Frage, die mir am meisten Angst einflößte – würde ich diese Fähigkeiten in mir wiederentdecken? Was war, wenn nicht? Wenn ich ewig – bis zu meinem Tode – als dieser halbe Mensch, diese Figur ohne Vergangenheit weitermachen müsste, einfach so, völlig unspektakulär?
     
    Sie musste doch irgendwo sein, diese Vergangenheit. Irgendwo in meinem Gedächtnis
musste
es Spuren meiner Eltern, Freunde und Verwandten geben. Ich war einmal ein Kind gewesen, das mit seinem Vater aus Ostdeutschland in den Westen gekommen war. Ich hatte Abitur gemacht und studiert, hatte gearbeitet und in einem prächtigen Haus am Berg gelebt. Aber im Moment war da nur die riesige Leerstelle in meinem Gedächtnis. Und noch nicht einmal an den Vater konnte ich mich erinnern.
     
    Die weiß getünchten Außenmauern sollten wohl ein griechisches Ambiente verbreiten, genau wie die beiden halbrunden turmartigen Erker, die das Haus links und rechts begrenzten. Die Aussicht verzauberte mich sofort. Der Bodensee erstreckte sich glänzend bis zum Horizont, wo er die entfernten Hügel berührte. Die Abendsonne zauberte noch einmal, bevor der Tag enden sollte, mit all denFarben, die sie auf ihrer Palette trug. Die Wiesen

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