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Der andere Tod

Der andere Tod

Titel: Der andere Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Jonuleit
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und dem übrigen Archiv die Akten der vergangenen Jahre kommen. Gegen Mittag hatte ich herausgefunden, dass ich einen florierenden und in Expansion begriffenen Betrieb besaß, der eine Umsatzrendite zwischen zehn und zwölf Prozent jährlich erwirtschaftete. Einen Großteil des Gewinns hatte ich allerdings in die Erweiterung unseres Firmengeländes investiert, angrenzende Grundstücke erworben und darauf ein Bürogebäude und eine neue Fertigungshalle bauen lassen. Meine Mitarbeiter waren hochqualifiziert und – wie ich an den Gehaltszahlungen erkannte – ebenso hoch dotiert. Mir selbst blieb auch ein stattliches Einkommen, das allerdings nicht ausgereicht haben durfte, um ein Haus dieser Art an den Berg zu setzen und obendrein eine Zweitwohnung in Prag zu kaufen.
    Ich musste nach Hause fahren und meine privaten Finanzen überprüfen. Bei meinen bisherigen Berechnungen war ich auf ein Einkommen von 270   000   Euro im Jahr gekommen. Vielleicht hatte ja Anouk Geld in unsere Ehe gebracht. Die Fotos, die sie mir unlängst gezeigt hatte, sprachen von Wohlstand und Eleganz in ihrem Elternhaus. Ichallein hätte mir diese Anschaffungen nur unter einer Bedingung leisten können. Steckte ich bis zum Hals in Schulden?
     
    Um fünf Uhr nachmittags fuhr ich nach Hause und schaltete den PC in meinem Arbeitszimmer an. Wie zu erwarten gewesen war, verhinderte ein Passwort mein weiteres Vordringen. Ich beschloss, mir an einem der nächsten Tage eine Boot-CD zu besorgen – in der Hoffnung, dass der Computer nicht geschützt wäre. Ich war gerade dabei, noch ein wenig am Passwort herumzulaborieren, mit der üblichen Geburtstagsdatengeschichte, mit Namen oder sonstigen Eindeutigkeiten in meinem Leben, als Anouk hereinkam und mir die Hände auf die Schultern legte. Sie beugte sich zu mir herab und küsste mich aufs Haar. Dann sagte sie: »Barbara hat eben angerufen.«
    Auf meinen fragenden Blick hin fuhr sie fort: »Auf meinem Handy. Sie möchte eine Wiedersehensparty für uns geben.«
    Ich zuckte zusammen. Mein Magen verkrampfte sich und ich spürte Übelkeit aufsteigen, wie vor einer Prüfung.
    Anouk schien mein Unbehagen zu bemerken. »Ich habe ihr gesagt, ich müsse erst mit dir sprechen.« Sie sah mich mit aufeinandergepressten Lippen an. Ich konnte nicht erraten, was sie dachte.
    »Na ja, ich …« Mehr brachte ich im Moment nicht heraus. Ich wollte niemanden verletzen. Aber der Gedanke, mit einem Haufen Fremder in einem Raum zusammengepfercht zu sein, die alle mehr über mich wussten als ich selbst, schnürte mir die Luft ab.
    Anouks Blick strich über mein Gesicht. Darin lag wieder diese unsägliche Zärtlichkeit. Sie fragte verständnisvoll: »Soll ich ihr sagen, dass wir das lieber noch ein bisschen hinausschieben wollen?«
     
    Ich entschloss mich zum Sprung ins kalte Wasser. Ich redete mir gut zu. Es konnte ja schließlich auch etwas Gutes haben, all diese Menschen aus meiner Vergangenheit auf einmal zu treffen. Womöglich käme ich sogar etwas einfacher davon, als wenn ich lauter Vier-Augen-Begegnungen gehabt hätte.
    Zusammen mit Anouk ersann ich einen Plan. Wir baten Barbara, die Feier erst in vier Wochen stattfinden zu lassen. Dann ließ Anouk sich von Barbara die Namen der Gäste geben. Wir verbrachten die nächsten Abende damit, Steckbriefe über alle Geladenen zu erstellen. Es war, als lernte ich die Lebensläufe von historischen Personen auswendig. Und wir hatten unseren Spaß dabei. Anouk ließ es nicht an Insider-Anekdoten fehlen. So konnte ich mir die Charakteristika der einzelnen Personen besonders leicht einprägen.
    Als ich die Lektionen gelernt hatte, hielt Anouk mir abwechselnd verschiedene Fotos unter die Nase oder nannte nur einen Namen und fragte mich ab. Es war wie bei einer Prüfung, nur dass ich die bezauberndste Lehrerin der Welt vor mir sitzen hatte und wir die eine oder andere Prüfungseinheit im Bett absolvierten.
    Aber
Bett
bedeutete gleichzeitig
Schlafzimmer
, und die Schwelle zu diesem Raum barg für mich noch immer dumpfe Gefühle. Ich brachte das letztlich mit einer Angst vor der »Handschellen-Wahrheit« in Verbindung. Bis eines Nachts der Traum des hebräischen Bildes wiederkehrte und die Furcht von einer ganz neuen Seite aus beleuchtete.
    In dieser anderen Dimension wusste ich zunächst nicht, wo ich war. Ich stolperte eine Treppe hinauf, einen Gang entlang, auf eine Tür zu. Es war wie in vielen Alpträumen. Ich hatte das Gefühl, in Watte zu versinken. Meine Füße, meine Beine

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